Am 19. Mai 1990 wurde die Grenzöffnung geprobt. Rainer Christoph, damals Rektor der Grund- und Hauptschule Bärnau, erinnert sich an ergreifende Szenen: "Wir fuhren mit einem Bus von der Grenze über Wiesen Richtung Tachau - ein unglaubliches Erlebnis, es herrschte absolutes Schweigen im Bus." Die Oberpfälzer blickten gebannt auf eine Terra incognita hinter den Scheiben. In Tachau ganz normale Menschen, die die Gäste mit Blasmusik und Bratwürsten empfangen - auch hier wächst zusammen, was zusammengehört. Bayern und Böhmen, Liebhaber deftiger Schmankerl.
Auf der anderen Seite der Grenze empfängt der Bärnauer Bürgermeister seine Kollegen aus Tachau und Hale/Hals. Erste Forderungen werden laut, die Visa-Pflicht aufzugeben. "Es gab wahnsinnige Emotionen", sagt Christoph, "Tränen und Umarmungen wie beim Fall der Berliner Mauer - wir wurden Zeitzeugen." Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Am 1. Juli 1990 fällt die Visa- und Geldumtauschpflicht. Zu Grenzübertritten genügt der Personalausweis.
An diesem ersten Juli löst Maria Wiesner ihre Wettschuld ein: "Als ich 1980 erstmals für den Bundestag kandidierte", erinnert sich SPD-Urgestein Ludwig Stiegler, "hielt ich beim Ortsverein in Mähring eine staatstragende Rede zur Deutschlandpolitik." Die Post-Wirtin lauscht aufmerksam und kanzelt den jungen Kandidaten ab: "Omei, du dummer Bou", entfuhr es der Unternehmerin. Die Grenze sollte eines Tages wieder verschwinden, die Nachbarn sich wieder näherkommen? "Ois dumme Sprüch." Stiegler bietet eine Wette an: "Im Ergebnis musste mich die Maria mit dem Schubkarren über die neu eröffnete Grenze fahren."
Der Russ', der kommt
Glaubt der Helmut-Schmidt-Anhänger damals tatsächlich an das Wunder von Mähring? 1980, das Jahr des gnadenlosen Wahlkampfs Schmidt gegen Strauß, Freiheit statt Sozialismus. Schmidt bereitet seine letzte Schlacht, den Nato-Doppelbeschluss vor. Für viele gilt frei nach Gerhard Polts Spott: "Wenn der Russe in dieser Formation zu uns daher kommt, wissen Sie, was da los ist? Dann ist er da!" Doch der Oberpfälzer Klosterschüler lässt sich nicht kirre machen: "Ich war mir unter dem Einfluss von Herbert Wehner im Zuge der neuen Ostpolitik sicher, es wird nicht gleich zum Regimewechsel kommen, aber zur normalen Nachbarschaft."
Jenseits des Eisernen Vorhangs geht es für die Menschen nicht nur um die psychologische Randlage. Für Dissidenten, die mit dem reaktionären Husák-Regime nach Niederschlagung des Prager Frühlings im Clinch liegen, ist die Grenze ein Gefängnistor. Miluse Axamitová aus dem Dorf Zemetice plant 1949 ihre Hochzeit mit Antonín Axamit - doch ihr Verlobter wird verhaftet und zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte drei Studenten über die Grenze gebracht. Ein Urteil mit harten Folgen: Miluse wartet zehn Jahre auf ihren Mann, die beiden Töchter werden nicht zum Studium zugelassen.
Václav Eliás, Jahrgang 1935, aus Litice bei Pilsen versucht im April 1952 die Grenze nach Österreich zu überqueren. Er wird zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Kurz nach seiner Freilassung am 1. Juni 1953 beteiligt er sich zusammen mit seinem Vater an einer Demonstration gegen die Währungsreform in Pilsen - beide werden durch das Volksgericht in Pilsen verurteilt. Der Vater stirbt kurz nach seiner Freilassung. Erst nach der Wende 1989 kann sich Eliás seinen Lebenstraum erfüllen: Er arbeitet als selbstständiger Schreiner und Schlosser.
Was vor 25 Jahren mit großer Euphorie beginnt, ist heute Alltag. Von der Grenze in Waidhaus bleibt eine Ausstellung des Heimatkundlichen Arbeitskreises. "Wir wollten die Anlagen als Dokumentationszentrum einrichten", sagt der Vorsitzende und Gründer des Vereins, Josef Forster. "Doch die Politik wollte das nicht." Auffällig schnell habe man die Gebäude abgerissen. Jetzt erinnern nur noch die Bilder daran, was der Eiserne Vorhang bedeutete - und welche Folgen die Grenzöffnung für Waidhaus hat. Ganz konkret: Die Staus erreichen vor dem Lückenschluss der A6 1997 ihren Höhepunkt. "1989 hatten wir 100 000 Lkw - im Jahr darauf waren es 300 000 und über 3 Millionen Pkw." Ärgerlich, aber kein Grund, die Öffnung zu bedauern: "Man schimpft auf den Verkehr, aber es wurden auch viele Freundschaften geknüpft." Vielerorts brummt das Geschäft: "Mit weißer Ware machte man gutes Geld und unsere Leute gingen zum Essen rüber."
Rainer Christoph hat mit seinen Initiativen zahllose Schüler auf beiden Seiten der Grenze zusammengebracht. "Das grenzüberschreitende Skizentrum auf der Silberhütte, der deutsch-tschechische Geschichtspark Bärnau und die Festspiele", nennt der Vorsitzende des Vereins Goldene Straße als Beispiele. "Durch diese Aktivitäten sind echte Freundschaften entstanden."
Realität nach der Sehnsucht
Der Optimist, der Recht behalten sollte, bedauert die Vergesslichkeit seiner Zeitgenossen: "Erst war die Sehnsucht nach dem Paradies hinter den geschlossenen Grenzen groß", sagt Ludwig Stiegler. "Wenn die Realität einkehrt, kommen die nächsten Gebrechen." Vergessen, die Resignation am Ende der Welt, vergessen, dass an der Grenze oft geschossen und gestorben wurde. "Tausende von russischen und tschechischen Soldaten standen der Nato gegenüber und wir hätten im Ernstfall zerstört, was wir verteidigen wollten." Eine Absurdität. "Im Vergleich zu damals erleben wir heute die ,Unerträgliche Leichtigkeit des Seins'." Frei nach Milan Kundera, dem Grenzgänger.
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