Unter der Überschrift "Die bedauernswerten Autofahrer - Über die Tücken der Unfallberichterstattung" hat sich Helmut Burlager, der Ombudsmann der Wilhelmshavener Zeitung und des Jeverschen Wochenblattes, mit einem Thema beschäftigt, das die These stützt, dass in der Verkehrsberichterstattung der Medien eine neue Sprache nötig sei. Das forderte vor geraumer Zeit auch der Potsdamer Sozialwissenschaftler Dr. Dirk von Schneidemesser, worüber ich auf der Leseranwalt-Seite im Frühjahr 2021 geschrieben hatte.
Ich greife den kürzlich erschienenen Beitrag des Kollegen Burlager hier gerne auf, da ich der Meinung bin, dass Redaktionen daraus lernen können. Helmut Burlager (Jahrgang 1957) ist Journalist im Ruhestand und war, bevor er aus dem aktiven Berufsleben ausschied, Chefredakteur beim Anzeiger für Harlingerland und dem Jeverschen Wochenblatt. Vor gut einem Jahr übernahm er das Amt des Ombudsmannes. Burlager ist wie der Autor dieses Textes Mitglied der bundesweiten Vereinigung der Medien-Ombudsleute (VDMO).
Nicht vorschnell urteilen
Burlager weist anfangs auf etwas hin, das in Redaktionen gang und gäbe ist: "Zu den Fingerübungen von Praktikanten und Volontären am Beginn ihrer Journalistenkarriere gehört das Schreiben von Polizeimeldungen. Da kann man nicht viel verkehrt machen, denken sich die Ausbilder. Alle Informationen, die man braucht, stehen schon in den Presseberichten der Polizei. Das Ganze etwas flotter und eleganter formuliert - fertig ist das Anfängerstück. Wenn es nur so einfach wäre." Und es ist tatsächlich nicht so einfach, wie man glauben möchte.
Burlager lenkt den Blick darauf, dass die Lage an Unfallstellen zunächst meist unübersichtlich sei. Wer Schuld hatte, lasse sich oft erst durch gründliche Ermittlungen klären. "Umso mehr sollte in der Berichterstattung darauf geachtet werden, dass nicht vorschnell geurteilt wird - und dass der Journalist nicht die ,Beifahrerperspektive' einnimmt", appelliert Burlager.
In seinem Beitrag erwähnt er, dass die Berichterstattung über Unfälle in den vergangenen Jahren in die Kritik geraten sei, was mit der Verkehrswende zu tun habe. Eine Gesellschaft, die jahrzehntelang auf den Ausbau der Automobilität gesetzt habe, beginne langsam, sich aus unterschiedlichsten Gründen (Klima, Umwelt, Gesundheit, Unfallziffern, Staus) vom Vorrang für Autos zu lösen. "Diesen Richtungswechsel haben nicht alle verinnerlicht, die auf Polizeiwachen die Lageberichte und in Redaktionen die Blaulichtmeldungen formulieren", stellt der Ombudsmann fest.
Zu sehr die Autofahrersicht
Nach wie vor werde in den Medien vieles aus der Sicht der Autofahrer und mit Verständnis für deren Sorgen beschrieben: "Da überfährt nicht der Fahrer ein vierjähriges Kind, sondern das Kind ist ,in das Auto gelaufen'. Da ,erfasst' ein Wagen eine Fußgängerin, weil der Autofahrer ,von der tiefstehenden Sonne geblendet' wurde und nicht, weil der Mann bei schlechter Sicht zu forsch unterwegs war. Eine Radfahrerin ,stürzt in den Reifen eines Lkw', wo doch in Wirklichkeit der Lastwagenfahrer die Frau an einer Einmündung umgenietet hat. Unfälle passieren in diesen Polizeimeldungen, weil ein Chauffeur ,die Situation zu spät erkannt' oder weil er einen Fußgänger oder Radler ,übersehen' hat und nicht, weil er zu schnell oder zu unvorsichtig fuhr."
Kritiker würden hier von der sogenannten "Beifahrerperspektive" sprechen, was daran liegen möge, dass die meisten Polizisten und Journalisten selbst Autofahrer sind. Es könne aber auch damit zu tun haben, mutmaßt Burlager in seinem Artikel, dass nach einer Kollision oft nur der Autofahrer vernehmungsfähig sei, weil der schwächere "Unfallgegner" ("auch so eine fragwürdige Formulierung") im Krankenhaus liege und seine Version vorerst ungehört bleibe.
Auch Helmut Burlager erwähnt, dass das heikle Thema sogar wissenschaftlich untersucht worden sei und in der journalistischen Aus- und Fortbildung dafür sensibilisiert werde, dass die Art der Berichterstattung auch die Art des Denkens beim Publikum prägen könne. Burlager beschreibt das so: "Wenn Unfallopfer, obwohl der genaue Hergang meist noch nicht bekannt ist, in den Berichten oft als aktiv dargestellt werden (,lief vor den Wagen') und Verursacher als eher passiv (,konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen'), dann löse das beim Lesenden andere Bilder aus, als würde es andersherum geschildert." Als Beispiel führt Burlager die Überschrift "Radfahrerin kracht ohne Helm gegen Auto" in einer westfälischen Zeitung an. Das höre sich erst einmal nach "selbst schuld" an, eventuelle Verletzungen eingeschlossen. In Wirklichkeit jedoch habe eine Autofahrerin der Radlerin die Vorfahrt genommen.
Ein Mensch ist verantwortlich
Burlager berichtet dann von einem anderen Phänomen, das jüngst ein Leser angesprochen habe. Dieser habe darauf aufmerksam gemacht, dass es in Polizeimeldungen häufig so klinge, als seien Kraftfahrzeuge führerlos unterwegs gewesen. Mit Formulierungen wie "Transporter tötet Radfahrer" oder "Zwölfjährige von Auto angefahren" werde unterschlagen, dass es ein Mensch war, der am Steuer des Kraftfahrzeugs saß und den Zusammenstoß möglicherweise verursacht hat. Dass die Person im Auto oft unsichtbar bleibe, so Burlager, habe vor einiger Zeit der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) beklagt und deshalb für eine sorgfältigere Unfallberichterstattung plädiert.
Dem möchte ich mich anschließen. Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen sollten darauf achten, dass ihre Texte nichts enthalten, das beim Leser eine verzerrte Wahrnehmung des Unfallgeschehens bewirken könnte.
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