In der neuen Rangliste der Pressefreiheit, dieser Tage von der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) veröffentlicht, offenbart die „Nahaufnahme Deutschland“ bedenkliche Entwicklungen. Die Lage, so lautet die Gesamtbewertung von RSF, habe sich im Jahr 2022 „leicht verschlechtert“. Das heißt konkret: Deutschland belegt nur noch Platz 21, nach Rang 16 im Vorjahr und Position 13 im Jahr 2020.
Dazu beigetragen habe vor allem das Kriterium „Sicherheit von Medienmitarbeitenden“. 103 Angriffe hat Reporter ohne Grenzen im vergangenen Jahr dokumentiert. Mit 87 Fällen „fand die große Mehrheit in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten statt. Gefährlichster Ort waren wie in den Vorjahren Demonstrationen, meist gegen Corona-Maßnahmen“, heißt es im RSF-Bericht.
Ein neuer Höchstwert
Die 103 Angriffe auf Medienschaffende seien der höchste Stand seit Beginn der Zählung im Jahr 2015. Zum Vergleich: 2021 gab es 80 Angriffe, 2020 registrierte RSF 65. Dazu erläutert Reporter ohne Grenzen: "Das Ausmaß der Gewalt gegen Medienschaffende dürfte in der Realität noch größer sein, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Da es zu vielen Fällen von Übergriffen und Angriffen nur Schilderungen, aber keine Ermittlungen oder Gerichtsverfahren gibt, kann eine solche Zählung wissenschaftlichen oder juristischen Kriterien nicht genügen. Sie versucht jedoch, das Dunkelfeld von Gewalt gegen Medienschaffende nach Möglichkeit zu erhellen." Fast die Hälfte der 103 verifizierten Angriffe wurde nach RSF-Angaben in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern verübt, dort, wo besonders viele rechtsextreme Veranstaltungen stattgefunden hätten.
Kameramann den Bart angezündet
Zu welchen Taten kam es? Die Antwort von RSF: "Am häufigsten waren im Jahr 2022 Tritte und Schläge, auch mit Gegenständen." Medienschaffende seien beispielsweise mit Eiern, Glasflaschen oder Schlamm beworfen, festgehalten, an den Haaren gezogen oder gewürgt worden. "In anderen Fällen hielten Angreifende ein Megafon mit lauten Geräuschen an das Ohr der Betroffenen, rissen ihnen die Corona-Schutzmaske herunter oder schubsten sie so, dass sie stürzten oder verletzt wurden."
Reporter ohne Grenzen listet mehrere Beispiele auf. Darunter ist dieses: "Am 20. August stürmte der parteilose Bürgermeister von Bad Lobenstein in Thüringen, Thomas Weigelt, der mit Reichsbürgern in Verbindung steht, bei einem Marktfest auf den Reporter Peter Hagen von der Ostthüringer Zeitung zu, sodass dieser stürzte und sich verletzte; dabei nahm seine Filmausrüstung Schaden. Der Reporter stellte Anzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung, der Bürgermeister wurde suspendiert."
Beispiel zwei: "Am 6. Januar übergossen Teilnehmende eines ,Querdenken'-Protests im bayerischen Mittenwald einen Fotografen von hinten mit Kerzenwachs." Beispiel drei: "Bei einem sogenannten Montagsspaziergang am 26. Januar in Homburg (Saar) rammte ein rechtsextremer Teilnehmer einem Reporter der Rheinpfalz mit voller Wucht den Kopf in den Bauch. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt." Beispiel Nummer vier: "Bei einem Gedenkmarsch der Neonazipartei ,Freie Sachsen' am 13. Februar hielt ein Teilnehmer einem Kameramann eine Kerze unter dessen Vollbart und brannte diesen teilweise ab."
Gewalttätige Teilnehmende der Querdenken-Proteste, so stellt RSF fest, hätten die Erfahrung gemacht, dass sie mit Strafen kaum rechnen müssten. Obwohl die Polizei Betroffenen zufolge häufig vor Ort gewesen und manchmal unmittelbar daneben gestanden sei, habe diese oftmals nicht eingegriffen und auch keine Ermittlungen eingeleitet. Nicht einmal in der Hälfte der 103 Fälle hätten sich Betroffene für eine Anzeige entschieden, noch sei von Amts wegen ermittelt worden.
Als einen Grund dafür, warum Journalisten auf Anzeigen verzichten, nennt RSF "Angst": "Die Betroffenen versuchen, sich vor weiteren Angriffen zu schützen, indem sie vermeiden, dass gewaltbereite Neonazis und deren Netzwerke ihre Adressen erhalten, die bei einer Anzeige in der Ermittlungsakte stehen und üblicherweise von Beschuldigten und ihrer Verteidigung eingesehen werden können."
Kritik an Polizei und Justiz
Nicht nur von der Justiz, sondern auch von der Polizei hätten sich Pressevertreter im Stich gelassen gefühlt. Auch bei angemeldeten Demonstrationen seien die Einsatzkräfte oft nicht in der Lage, für die Sicherheit von Journalisten zu sorgen. Erstmals habe man Betroffene systematisch zu ihren Erfahrungen mit der Polizei befragt, teilt RSF dazu mit. Dabei zeigte sich: In knapp einem Drittel aller Fälle habe sich die Polizei nach einem Angriff zur Zufriedenheit der Journalisten verhalten, "etwa indem sie diesen half, wieder aufzustehen, freundlich mit ihnen sprach, eine Anzeige aufnahm oder Tatverdächtige festnahm". In einzelnen Fällen eskortierte die Polizei Reporter "aus Demonstrationen hinaus, so dass diese zwar in Sicherheit waren, aber nicht mehr aus der Nähe berichten konnten". In knapp einem Fünftel der Fälle hätten die Betroffenen angegeben, dass ihnen Unterstützung verwehrt geblieben sei, obwohl sich Polizeikräfte "ganz in der Nähe aufhielten oder zum Einschreiten aufgefordert wurden".
Sogar Morddrohungen
Betroffene beklagten auch eine Täter-Opfer-Umkehr durch die Polizei. Sie habe den Journalisten mitunter die Schuld oder eine Mitverantwortung dafür gegeben, angegriffen worden zu sein. Statt die Tatverdächtigen zu verfolgen, hätten Polizisten die Personalien von Pressevertretern aufgenommen.
Auch dieser Aspekt ist RSF wichtig: "Insbesondere weibliche und queere Medienschaffende erhalten regelmäßig Beleidigungen hinsichtlich ihrer Kompetenz oder ihres Aussehens, Vergewaltigungs- und Morddrohungen - auf der Straße ebenso wie per Post, per E-Mail, per Telefon und in den Sozialen Medien." Ein wachsendes Problem stellt das sogenannte "Markieren" von Medienschaffenden dar. Oft werde bei Demonstrationen mit dem Finger auf sie gezeigt, laut ihr voller Name gerufen und gewarnt, sie stellten "eine Gefahr" dar. Journalisten würden aus nächster Nähe fotografiert, gefilmt. Das Material werde neben persönlichen Daten häufig im Internet veröffentlicht.
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