Hunger ist das beherrschende Problem in Afghanistan gut ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban. Nach dem Nato-Truppenabzug hat die Terrorgruppe am 15. August 2021 Kabul erobert und die Macht im Land übernommen. In einer internationalen Mission hat das Militär nach eigenen Angaben etwa 5000 Menschen evakuiert.
Ein Jahr später mangelt es laut Georg Taubmann aus Sulzbach-Rosenberg an Solidarität und Unterstützung. Er arbeitet für die Hilfsorganisation "Shelter Now" und koordiniert die Arbeit von Hilfskräften in Afghanistan. Für die Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit auf den Krieg in der Ukraine hat er Verständnis, schließlich betrifft diese Krise Europa viel mehr. "Trotzdem dürfen andere Länder nicht vergessen werden, in denen genauso viel Brutalität, Zerstörung und Not herrscht, insbesondere, da sich die Situation in Afghanistan gerade rapide verschlechtert", sagt Taubmann.
"Früher haben nur Obdachlose oder Menschen mit geringem Einkommen auf der Straße gebettelt. Inzwischen müssen das auch Angehörige der Mittelschicht tun", beschreibt er die Lage vor Ort. Das liege allerdings nicht hauptsächlich an mangelnder Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Vielmehr könnten sich nur noch wenige diese Produkte leisten. "Mit der Wirtschaft geht es bergab. Viele sind arbeitslos", berichtet Taubmann. Nach der Flucht vieler Geschäftsleute und anderer Verantwortlicher in leitenden Positionen vor einem Jahr fehle es an den nötigen Fachkräften. Verschlimmert habe sich die aktuelle Lage noch durch die schweren Erdbeben Mitte Juni, die viele Existenzgrundlagen zerstört hätten.
Ebenfalls problematisch sei die Situation für im Land gebliebene Ortskräfte. Nach dem "überhasteten" Rückzug der Weltmächte sind nun besonders ehemalige Militärangehörige, die mit den Vereinten Nationen zusammengearbeitet haben, schutzlos der Verfolgung durch das neue Regime ausgeliefert, schildert Taubmann. "Überall gibt es Checkpoints, an denen unter anderem Handys kontrolliert werden. Wer beispielweise Kontakte aus den USA eingespeichert hat, muss mit Konsequenzen rechnen". Nach Angaben von Unicef reichen diese von Gefängnis über Verschleppung und Misshandlung bis hin zu Tötung.
Ebenfalls verschlechtert hat sich die Situation für Frauen und Mädchen. Schulbildung werde Frauen nur bis zum sechsten Lebensjahr gestattet und Berufe beispielsweise im öffentlichen Dienst oder den Medien dürften sie nicht mehr ausüben. "Ich habe von einigen Frauen gehört, die aus Angst vor Zwangsverheiratung nicht mehr das Haus verlassen", schildert Taubmann. Obwohl sie viele Bildungseinrichtungen für Frauen und Mädchen schließen musste, könne die Organisation dennoch Erfolge verbuchen: Im Nordosten des Landes sei der Einfluss der Taliban noch nicht so stark, weshalb Schulen für Mädchen beispielsweise in Kabul wieder offen seien. Da die Zentralregierung noch in ihrer Aufbauphase sei, könne sich die Situation allerdings schnell ändern.
Seit Anfang Dezember ist Shelter Now auch mit ausländischen Mitarbeitenden wieder vor Ort. Die humanitäre Hilfe nach der Machtübernahme aufrechtzuerhalten, sei allerdings nicht einfach gewesen. "Die Situation war sehr chaotisch. Wir mussten alle Verträge komplett neu aushandeln. Plötzlich waren Verwaltungen mit völlig neuen Menschen besetzt, die eigentlich nicht für diese Berufe qualifiziert waren oder sich nicht mit dem System auskannten", berichtet Taubmann. Inzwischen laufen viele Hilfsprojekte wie eine Zahnklinik, ein Waisenhaus oder Brunnenanlagen wieder. "Aktuell kümmern wir uns aber vor allem um humanitäre Nothilfe. Das betrifft hauptsächlich Aufbauarbeiten und Notversorgung in den Erbebengebieten, aber auch eine wachsende Anzahl von Hungerleidenden landesweit", schildert Taubmann. Wichtig sei gerade finanzielle Unterstützung, sowohl von Privatpersonen, als auch von Regierungen weltweit. Von letzteren erhofft Taubmann sich mehr Solidarität: "Die Hilfsorganisationen sind gerade enormen Belastungen ausgesetzt. Die Politik muss sich jetzt ihrer Verantwortung bewusst werden, die sie gegenüber den zurückgelassenen Ortskräften, ihren ehemaligen Mitarbeitern, hat", fordert Taubmann.
Er hofft darauf, dass das Talibanenregime die Forderungen der internationalen Gemeinschaft anerkennt, damit diese die Sanktionen gegen die Talibanen aufhebt und sich daraufhin die humanitäre Lage im Land verbessert. "Kein Land hat das neue Regime bisher anerkannt, nicht einmal ehemalige Verbündete wie Katar", gibt Taubmann zu bedenken.
Der Krieg in Afghanistan: von der Invasion bis zum Abzug
Fast zwei Jahrzehnte nach ihrer Vertreibung aus der Hauptstadt Kabul erobern die Taliban Provinzhauptstadt nach Provinzhauptstadt in Afghanistan. Ein Rückblick:
- 11. September 2001: Die Anschläge von Al-Kaida in den USA lösen den US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan aus.
- 22. Dezember 2001: Der Bundestag stimmt für eine Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Internationalen Schutztruppe Isaf.
- 9. Oktober 2004: Die erste Präsidentenwahl in der Geschichte Afghanistans endet mit einem Sieg von Übergangspräsident Karsai.
- 18. September 2005: Erstmals seit 36 Jahren wählen die Afghanen ein Parlament. Knapp 2800 Einzelkandidaten bewerben sich um 249 Sitze.
- 2. Mai 2011: Osama Bin Laden wird während einer geheimen Operation von US-Spezialkräften im pakistanischen Abbottabad getötet.
- 1. Januar 2015: Zum Jahreswechsel beendet die Nato offiziell ihren Kampfeinsatz in Afghanistan. In der neuen Mission "Resolute Support" werden afghanische Streitkräfte ausgebildet und beraten.
- 29. Februar 2020: Die USA unterzeichnen mit den Taliban ein Abkommen, das einen schrittweisen Abzug der Nato-Streitkräfte vorsieht.
- 13. September 2020: In Katar beginnen Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung.
- 1. Mai 2021: Es beginnt der offizielle Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan.
- 29. Juni 2021: Die letzten Bundeswehr-Angehörigen werden aus Afghanistan ausgeflogen.
- 8. August 2021: Die Taliban nehmen mehrere Provinzhauptstädte ein.
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