Mit ihnen war zu rechnen

Kirchenthumbach
13.08.2015 - 00:00 Uhr

Rechnen ohne Strom - vor der Erfindung des Taschenrechners ging das nicht anders. Um sich das Addieren, Subtrahieren oder Teilen dennoch zu erleichtern, waren andere Hilfsmittel gefragt. Die Rechenscheibe war eines davon. Deren Spur führt auch nach Kirchenthumbach.

Helma Tröger (von links), Ehemann Volkmar und Schwägerin Erika Tröger sehen sich die Überreste der ehemaligen Werkstatt Hans Trögers durch. Dessen Vater Karl Emil Tröger hat die Rechenscheibe erfunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich Hans Tröger in Kirchenthumbach nieder und stellte mit Familienmitgliedern die Rechenhilfen her. Die gingen in die ganze Welt. Bilder: esc (3)

(esc) Angefangen hatte alles 1904: In diesem Jahr erfand Karl Emil Tröger aus Mylau im Vogtland die Rechenscheibe und hat sich diese patentieren lassen. Seine "Maschinen" gingen in die ganze Welt. Doch wie gelang sie ausgerechnet nach Kirchenthumbach?

Einer seiner Söhne, Hans Tröger, lernte in Gefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg einen Arzt kennen: Dr. Heimberger riet ihm damals, sich nicht nach Sachsen freizulassen, sondern nach Bayern. Besagter Arzt lebte eben in Kirchenthumbach. Dem Rat des Freundes folgend kam Hans Tröger in die Oberpfalz.

"Nach ein paar Jahren hat er hier Fuß gefasst", erzählt seine Tochter Erika Tröger. Sie und der Rest der Familie waren noch immer in der Heimat. Sie weiß weiter, dass ihr Vater "schwarz über die Grenze eine Schreibmaschine geholt hat". Mit der hat er vermutlich für seine neue Selbstständigkeit Rechnungen, Briefe, Angebote geschrieben. "Ich bin 1951 zum ersten Mal aus Sachsen rübergekommen", sagt Erika Tröger weiter. Für 14 Tage habe sie eine Besuchserlaubnis erhalten, weil sie eine angebliche kranke Tante besuchen musste. Im September des gleichen Jahres kam dann der Rest der Familie nach dem genehmigten Antrag zur Zusammenführung "rüber".

Astreiner Familienbetrieb

In dem Familienbetrieb halfen nacheinander die Kinder dem Vater: Nachdem die große Schwester Ilse geheiratet hatte, nahm Erika Tröger deren Platz in der Werkstatt ein. Nach ihrem Wegzug half Bruder Volkmar. Am längsten war Helma Tröger im Betrieb tätig: Die Frau von Volkmar Tröger und somit Schwiegertochter von Hans Tröger arbeitete elf Jahre in der Werkstatt, von 1965 bis 1974. In diesem Jahr wurde dem Betrieb die Erfindung des Taschenrechners zum Verhängnis: Die Werkstatt beantragte eine Gewerbeabmeldung, am 31.12.1974 war mit der Herstellung der Rechenscheiben Schluss.

"Gute 20 Jahre gab es den Betrieb", blickt Helma Tröger zurück. Sie folgte in der Reihenfolge der Beschäftigung auf ihren Mann Volkmar, als der als Kantinenchef zu Siemens in Kemnath wechselte. Ende der 1950er Jahre "war mein Vater dritthöchster Steuerzahler in Kirchenthumbach", erinnert sich Erika Tröger.

Das ist nicht verwunderlich: Kosteten die Scheiben pro Stück 28,50 DM. Wenn dann noch ein Großauftrag wie der der Firma "Esüdro" vorlag, waren die Trögers gut beschäftigt. 1000 Stück bestellte der Großhandel für Logistik mehrerer tausend Drogerien, Parfümerien und Foto-Fachgeschäfte. Dafür gab es dann 20 Prozent Nachlass.

Wie lange Helma Tröger und ihr Schwiegervater an der Bestellung arbeiteten, kann die 73-Jährige heute nicht mehr sagen. "Wir haben ja auch viel auf Vorrat gearbeitet." Mit Sicherheit aber waren es mehrere Wochen. Als "Kleincomputer" bezeichnete Tröger auf der Bestellliste seine Rechenscheibe: "Stimmt Ihre Kalkulation?", prangt es in schwarzen Lettern der Bestellung. "Mit der ,Tröger Rechenscheibe' können Sie nicht nur Preise kalkulieren und Ihre Handelsspanne ermitteln. Das beiliegende Informationsblatt zeigt Ihnen, was Sie mit diesem ,Kleincomputer' noch alles rechnen können."

Jede Scheibe überprüft

Auch wenn das wie eine Werbeanzeige klingt - "wir mussten nie Reklame machen", betont Erika Tröger. Die Qualität der Kirchenthumbacher hat sich herumgesprochen. Das war auch kein Wunder: "Vater hat jede Scheibe extra genau geprüft", erinnern sich Erika und Helma Tröger. Dass die beiden Damen nicht mehr genau sagen können, wie lange sie an einer Rechenscheibe gesessen sind, liegt wohl auch daran, dass sie die Scheiben in mehreren Arbeitsschritten fertigten.

Des Rechen-Hilfsmittel gab es in zwei verschiedenen Ausführungen: 30 und 15 Zentimeter Durchmesser. Für beide sägten die Hersteller aus Sperrholzplatten die entsprechende Größe zurecht, die bedruckte Zahlen-Folie wurde ausgeschnitten. Zu Beginn noch mit der Schere, später wurden sie ausgestanzt. Um die beiden Teile zusammenzufügen, rührten die Trögers eigens einen Leim an. "Das habe ich nicht so gerne gemacht", lacht Erika Tröger heute. "Das hat gestunken", bestätigt ihre Schwägerin. Als "Sträflingsarbeit" bezeichnet Erstere den roten Strich, den sie und ihre Kollegen auf den Zeiger zeichnen mussten. "Schau her, der ist ein bisschen verpatzt", sieht sie heute bei der Durchsicht ihrer damaligen Arbeitsmaterialien. "Den hätte Vater nicht durchgehen lassen", sind sich die beiden Frauen lachend einig. "Manches Mal war es wirklich anstrengend", erinnert sich Erika Tröger.

Im ,Tatort' entdeckt

Sie wohnt mit Ehemann Volkmar in dem Haus, in dem seinerzeit der Betrieb beheimatet war. Wo einst die Werkstatt war, wo Arbeits- und Schreibtische standen, wo sie die Einzelteile zu einer Rechenscheibe zusammenfügte, wohnt jetzt ihre Tochter mit Familie. Von der einstigen Arbeitsstelle ist nichts mehr zu erkennen.

Neben Holz und Papier wurden zu Anfangszeiten noch die Knöpfe, die die beiden Scheiben zusammenhielten, lackiert. "Die kamen als Rohlinge an", erklären die zwei Frauen. "Später sind wir auf Kunststoff übergegangen."

Dass sich die Scheiben beinahe in der ganzen Welt verbreiteten, ging "automatisch", sagt Erika Tröger. In Schulen, Webereien ja sogar in der Landwirtschaft haben die Hilfsmittel Einzug gefunden. Der Erfinder hat eine Rechenscheibe für die Laufzeiterrechung gestaltet. Hauptsächlich verkauften die Trögers die Rechenhilfen innerhalb Deutschlands und Europa, nach Übersee eher selten. Wegen der höheren Luftfeuchtigkeit lieferte Hans Tröger aber nicht gerne ins Ausland, erinnert sich Tochter Erika. Das Papier habe sich oft von der Sperrholzplatte gelöst und sei wellig geworden. Folge seien dann oft Reklamationen gewesen - "und das war teuer", sagt sie. Schließlich hätten die Scheiben einzeln verpackt verschickt und wieder ausgetauscht werden müssen.

Auch heute noch sind die Rechenscheiben von Hans Tröger zu finden. Erst vor kurzem hat Schwiegertochter Helma eine entdeckt. "Ich habe vor kurzem den ,Tatort' im Fernsehen gesehen", erzählt sie. "Da habe ich zu meinem Mann gesagt: ,Volkmar schau, da ist eine unserer Rechenscheiben.' Da lag eine auf dem Schreibtisch des Kommissars", lacht sie. Auch wenn Taschenrechner, Computer und Co. längst in allen Lebensbereichen Einzug gefunden haben - mit den "Tröger Rechenscheiben" aus Kirchenthumbach ist dennoch immer wieder zu rechnen. (Hintergrund)

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