Ein einziger Schlag - Frauen in der Gewaltspirale

Oberpfalz
23.11.2020 - 15:40 Uhr
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Verunsicherung, Abwertung, Schläge. Gewalt in Beziehungen hat viele Gesichter. Julia Möbus vom Sozialdienst katholischer Frauen erzählt von ihrer Arbeit beim Notruf und von einer Frau, die sich aus der Gewaltspirale herauskämpft.

Gewalt in der Partnerschaft - für manche Frauen schrecklicher Alltag.

Eskaliert. Es war einfach eskaliert. Gerade erst war sie nach ihrer Fortbildung zuhause angekommen. Bei ihrem Mann, ihren beiden Kindern, ihrer Familie. Doch ein freudiges Wiedersehen, ein herzlicher Empfang – weit gefehlt. Sie sei bei ihrer Affäre gewesen, sie habe ihn betrogen, das sei doch offensichtlich. Ein altbekanntes Thema, ein altbekannter Grund für Streit. Dabei gibt es diese angebliche Affaire, den fremden Liebhaber überhaupt nicht. Kein Grund, so auszurasten. Sie macht doch alles ganz genau so, wie er es will. Doch an diesem Tag sind all ihre Mühen nichts wert. Und ihr Mann beendet den Streit mit einer schallenden Ohrfeige.

Anfang des Jahres, als das Corona-Virus auch die deutsche Grenze überquert, befindet sich ein ganzes Land im Lockdown. Die Öffentlichkeit kommt fast komplett zum Stillstand, das Leben findet hinter verschlossenen Türen statt. Und während die einen zu Hause Sicherheit finden, bedeuten die eigenen vier Wände für manche Frauen vor allem eines: Gefahr.

Alles beginnt mit einem Anruf. Herr S. macht sich Sorgen, große Sorgen. Seine Tochter Caroline war eben nach einer heftigen Auseinandersetzung von ihrem Mann geschlagen worden. Das habe sie ihm am Telefon erzählt. Er selbst wohnt 600 Kilometer entfernt. Herr S. kann nichts tun. Deshalb ruft er bei Julia Möbus an. Die 26-Jährige arbeitet seit März 2017 beim Notruf des Sozialdiensts katholischer Frauen, kurz SKF. Während des Lockdowns ist es scheinbar ruhig, kaum mehr Anrufe als sonst erreichen die junge Frau. Doch sie weiß, die Stille ist trügerisch: „Bei uns sind während der Hochphase von Corona nicht die Fallzahlen allgemein gestiegen, sondern die Zahl der Vorfälle in den Beziehungen, die wir vorher schon kannten. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass die Frauen nur schwer aus den Wohnungen raus- und von ihrem Mann wegkamen. Wenn der Täter ständig in der Nähe ist, wird ein Anruf bei uns für Gewaltopfer fast unmöglich.“ Wie viele Frauen sich an einem Tag melden, ist kaum vorhersehbar. Jeden Morgen überprüft Julia Möbius den Postkasten und die E-Mails. Gab es in der Nacht einen Notruf, schicken ehrenamtliche Helfer ein Protokoll an den SKF. An manchen Tagen gibt es keinen einzigen neuen Fall, an anderen bis zu 20.

Julia Möbus hilft beim Notruf des SKF Frauen, die Gewalt in ihrer Beziehung erleben.

Kontrolle als Machtmechanismus

Im Gespräch mit Herrn S. empfiehlt ihm Julia Möbus, die Notrufnummer des SKF an seine Tochter weiterzugeben. Und tatsächlich – eine Stunde später klingelt das Telefon, am anderen Ende der Leitung ist Caroline W. Die junge Frau ist verzweifelt: Sie wisse nicht, wohin sie gehen solle, sie verstehe die Situation nicht. Und sie habe Panik wegen ihrer Kinder, dem elfjährigen Leon und der neunjährigen Mia. Ihre Tochter verletze sich immer häufiger selbst, ihr Sohn hingegen beginne langsam, das Verhalten ihres Ehemannes zu übernehmen. Er weigere sich beispielsweise, sein Geschirr wegzuräumen. Das sei schließlich Frauensache. „Die Kinder sind oft der Auslöser, dass sich die Frauen bei uns melden und sich aus einer Gewaltbeziehung befreien wollen. Kinder bekommen oftmals mehr mit, als wir denken. Sie sind sehr sensibel für das Machtverhältnis in der elterlichen Beziehung“, erklärt Julia Möbus. Auch bei Caroline und ihrem Mann wird schnell deutlich, wer die Beziehung steuert. Von Anfang an hat er die Gewalt über die Konten, wirft ihr vor, sie können nicht mit Geld umgehen und würde alles zum Fenster rausschmeißen. Caroline muss um Geld betteln, damit sie den Kindern überhaupt das Nötigste kaufen kann. „Gerade die alleinige Kontrolle über das oftmals gemeinsam verdiente Geld verleiht dem Täter noch mehr Macht, indem es das Opfer erniedrigt. Das ist ein Mechanismus, den wir sehr häufig beobachten.“

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Weiden in der Oberpfalz24.08.2020

Allmähliche Gewaltentwicklung

Derartige Verhaltensweisen gehören zu den sogenannten Täterstrategien. Gerade zu Beginn einer Gewaltbeziehung sind diese oftmals subtil und kaum bemerkbar. Das macht es den Opfern nahezu unmöglich, ihre Lage zu erkennen. „Keine Beziehung ist von Anfang an eine Gewaltbeziehung. Das kann sich über Wochen, Monate oder sogar Jahre entwickeln“, erklärt Julia Möbus. „Gewalt beginnt nicht erst mit Schlägen und blauen Flecken.“ Viele Gewaltbeziehungen sind gerade anfangs traumhaft schön und voller Romantik, Zuneigung und ehrlichem Interesse. Genau das macht Gewaltbeziehungen so gefährlich, denn jeder kann zum Opfer werden. Die Erinnerung an die schöne Anfangszeit ist es, die die Frauen bei den Männern hält. Die Hoffnung, dass es irgendwann wieder so werden könnte wie früher. Auch Carolines Ohrfeige geht eine lange Geschichte des psychischen Missbrauchs voraus.

Abgrenzung von der Familie

Gewalttätig sei er vorher nie gewesen, er habe sie lediglich manchmal im Streit geschubst. Doch die Worte, der Umgang, der sei schlimm gewesen, auch vor ihren Freunden. Er kontrolliere immer wieder ihr Handy, werfe ihr vor, sie hätte ein verkorkstes Leben. Besuch bekämen sie schon lange nicht mehr. Ihre Freunde mieden ihren Ehemann, was sie ja auch irgendwie verstehen könne, aber schade wäre es schon. Die gemeinsamen Abende wären schon immer toll gewesen. Aber das sei schon lange her.

„Täter versuchen natürlich mit aller Macht, das Opfer von seiner Familie und seinen Freunden abzugrenzen. Das führt dazu, dass das Opfer am Ende völlig abhängig von ihm ist.“ Caroline selbst kann nur mit Mühe den Kontakt zu ihren Eltern aufrecht erhalten: Mit denen habe ihr Mann schon lange gebrochen, die hätten ihn ja noch nie leiden können. Immer wenn sie mit den Kindern für ein paar Tage zu ihnen fahren wolle, gäbe es einen riesigen Streit. Fahren ließe er sie dann aber doch. Ein schlechtes Gewissen plage sie dann aber schon immer.

„Es ist sehr typisch, dass Täter solche Unternehmungen gerne verbieten wollen. In diesen Momenten haben sie schließlich keine Macht über ihr Opfer. Sie können nicht kontrollieren, was gesprochen wird und was die Eltern vielleicht über sie sagen. Trotzdem lassen sie die Frauen dann oftmals ziehen, denn sie wissen genau, dass das vielleicht eine Grenze ist, die die Frau dazu bringen könnte, sich zu trennen. Diese Grenze wollen sie natürlich nicht überschreiten. Das Opfer soll schließlich bei ihnen bleiben.“

Schwindendes Selbstbewusstsein

Abwertung, Beleidigung, Demütigung. Mechanismen, um die Betroffene klein zu halten, ihr das Selbstbewusstsein zu nehmen. „Die meisten Frauen, mit denen wir sprechen, erzählen, dass sie ja eigentlich selbst schuld sind. Das wird ihnen vom Täter sorgfältig eingeredet, um seine Verantwortung auf sie abzuwälzen. Oftmals entzieht er seinem Opfer auch bewusst Informationen zur Selbstaufklärung, die vielleicht zur Folge hätten, dass die Frau sich trennt.“

Aber auch Drohungen wie: „Die Kinder bleiben bei mir“ oder „Ich werde dir etwas antun, wenn du dich trennst“ sorgen dafür, dass betroffene Frauen den Schritt, ihren Mann zu verlassen, nicht wagen. „Viele Frauen wissen auch überhaupt nicht, was ihnen zusteht. Manche wissen nicht einmal, dass es sowas wie Arbeitslosengeld gibt“, erzählt Julia Möbus. „Unsere Aufgabe ist es dann, die Frauen über ihre Rechte aufzuklären. Gemeinsam einen Weg zu finden, wie es weitergehen kann.“

Im Gespräch zeichnet Julia Möbus den Gewaltkreislauf.

Einstweiliges Kontaktverbot

Als Caroline mit Julia Möbus telefoniert, ist ihr Mann bereits aus der Wohnung abgehauen. Die Sozialpädagogin rät der jungen Frau, die Polizei zu rufen. Die kann den Täter für zwei Wochen der Wohnung verweisen und ein einstweiliges Kontaktverbot verhängen. Anders als oft vermutet muss das Opfer dafür keine Anzeige erstatten. „Die Polizei hat ihren Mann später betrunken aufgegriffen und ihm den Wohnungsschlüssel abgenommen. Wenn er sich ihr jetzt trotzdem nähern würde, könnte die Polizei einschreiten. Würde sie ihn allerdings in die Wohnung lassen, ist das Kontaktverbot sofort aufgehoben.“ Ein Arzt hat Caroline bereits versorgt, eine Freundin wird ihr über Nacht in der Wohnung Gesellschaft leisten. Bis zum nächsten Tag soll Caroline sich klar werden, was sie machen möchte. „Wir sprechen nie pauschal eine Trennungsempfehlung aus. Natürlich würde man gerne eingreifen und die Gewalt beenden, die Frauen sind aber immer noch selbstbestimmt. Es ist ein schmaler Grad zwischen Beratung und Bevormundung.“

Sicherheitsplan bei Bedrohung

In schweren Fällen kann eine Trennung für die Frau eine zusätzliche Bedrohung darstellen. „Das Kontaktverbot hält durch die hohen Strafen bei Missachtung die meisten Täter ab, die Frau aufzusuchen. Aber es gibt natürlich auch welche, die sich widersetzen.“ Dafür erstellt Julia Möbus mit den Frauen einen Sicherheitsplan. „Wir suchen beispielsweise einen Aufenthaltsort für die Frau, falls der Mann plötzlich auftaucht. Wir empfehlen ihr, die Schlüssel immer griffbereit zu haben und ein Prepaid-Handy im Badezimmer aufzubewahren, falls sie sich einschließen muss. Das beruhigt die Frauen.“ Auch wenn viele Betroffene die Lage bedrohlicher einschätzen, als sie ist – Julia Möbus hatte auch schon Fälle, die im Zeugenschutzprogramm endeten.

Hilfe aus dem Umfeld

Für Caroline ist die Situation glücklicherweise nicht so gefährlich. „Als wir am nächsten Morgen miteinander telefoniert haben, war ihr sofort klar, dass sie sich trennen will“, erzählt Julia Möbus. „Also haben wir zusammen am Telefon den Gewaltschutzantrag verfasst.“ Er verlängert das 14-tägige Kontaktverbot auf ein halbes Jahr. „Oft verharren Frauen jahrelang in Gewaltbeziehungen, aber wenn irgendwann die Entscheidung zu Gehen gefallen ist, ziehen es die meisten knallhart durch.“

Caroline bekommt außerdem Hilfe von ihrem Vater, der übers Wochenende zu ihr kommt. „Gerade als Außenstehender oder als Familienmitglied ist es wichtig, sich nicht abzugrenzen. Für die Betroffenen ist es sehr wertvoll, wenn sie merken, dass jemand die Gewalt wahrnimmt.“ Wer in seinem Umfeld Opfer von Gewalt vermutet, solle sich als Gesprächspartner anbieten. Man könne aber auch selbst bei Beratungsstellen wie dem SKF anrufen oder die Telefonnummern weitergeben. „Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie merken: Es ist jemand da.“

Mit den Gefühlsmonsterkarten erlangen Betroffene wieder eine Verbindung zu ihren Emotionen.

Gewalt während des Lockdowns

Caroline bekommt außerdem Hilfe von ihrem Vater, der übers Wochenende zu ihr kommt. „Gerade als Außenstehender oder als Familienmitglied ist es wichtig, sich nicht abzugrenzen. Für die Betroffenen ist es sehr wertvoll, wenn sie merken, dass jemand die Gewalt wahrnimmt.“ Wer in seinem Umfeld Opfer von Gewalt vermutet, solle sich als Gesprächspartner anbieten. Man könne aber auch selbst bei Beratungsstellen wie dem SKF anrufen oder die Telefonnummern weitergeben. „Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie merken: Es ist jemand da.“

Gerade während des Lockdowns stieg das Bewusstsein für Gewalt in Beziehungen stark an. „Die starke mediale Präsenz von Gewalt während der Corona-Hochphase war natürlich sehr gut. Wir hoffen aber, dass das auch nach Corona so bleibt. Denn immer noch wird zu wenig über das Thema gesprochen und informiert. Gewalt verschwindet leider nicht mit dem Virus.“

Zusammen mit dem SKF kämpft Caroline sich aus ihrer Gewaltbeziehung heraus. Julia Möbus begleitet sie wenn nötig zu Gerichtsterminen, zur Bank oder zur Polizei. Nur ein Schlag, nur eine Ohrfeige. Kann es sein, dass es dabei geblieben wäre? „Es gibt schon Fälle, wo es ein mal einen Schreckensmoment mit einer Ohrfeige gibt und die Männer dann aufwachen. Aber das ist sehr sehr selten. Vor allem eine Therapie machen die wenigsten.“ Jede dritte Frau erlebt irgendwann Gewalt in einer Beziehung. Wie Caroline kämpfen sich viele irgendwann aus dieser Spirale heraus. Denn niemand muss Gewalt ertragen. Weder psychisch, noch physisch. Weder verletzende Worte, noch einen Schlag. Nicht einen einzigen.

Deutschland & Welt02.06.2020
Info:

Auch Männer sind Opfer von Gewalt

Auch Männer werden Opfer von Gewaltbeziehungen. Die Mechanismen innerhalb der Beziehung sind aber ähnlich und machen es auch dem vermeintlich starken Geschlecht schwer, aus der Gewaltspirale auszubrechen. Häusliche Gewalt betrifft alle Bildungs- und Einkommensschichten. Sie existiert in allen Nationalitäten und Altersgruppen. Hilfe finden Betroffene bei Beratungs- und Interventionsstellen und insbesondere in akuten Bedrohungssituationen bei der Polizei.

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