Eine Wiese am Waldrand, früh morgens. Die ersten Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die Baumkronen. Vögel zwitschern. Doch die Ruhe wird jäh unterbrochen. Ein Trecker samt Mähwerk walzt auf das hohe Gras zu. Schrill tönt der Alarm über mehrere Hektar Land. Versteckt sich jetzt noch ein Rehkitz zwischen den Halmen, bedeutet das seinen sicheren Tod.
Es sind Situationen wie diese, die die Rehkitzrettung Amberg-Sulzbach vermeiden will. Seit über einem Jahr setzt sich der Verein mit seiner Initiatorin Susanne Kunisch für den Schutz der Jungtiere ein. Denn immer noch werden in Deutschland jedes Jahr etwa 100.000 Rehkitze durch die Mähwerke verletzt oder getötet. „Die neugeborenen Kitze werden von der Geiß ins hohe Gras gelegt, um sie vor natürlichen Feinden zu schützen“, erklärt Susanne Kunisch. „Ihre über Jahrtausende bewährte Überlebensstrategie – das Ausharren – wird ihnen bei der Mahd aber zum Verhängnis. Anstatt bei Gefahr die Flucht zu ergreifen, ducken sich die wenige Wochen alten Kitze tief ins Gras und bleiben völlig regungslos.“ Werden sie dann vom Mähwerk erfasst, sterben sie meist nicht sofort, sondern verlieren durch die Messer ihre Läufe oder werden anderweitig schwer verletzt. Findet dann nicht ein Jäger das Kitz und kann es erlösen, stirbt es einen qualvollen Tod.
Die einzige Lösung: Vor der Mahd müssen die Wiesen durchsucht und abgelegte Kitze in Sicherheit gebracht werden. Eine Aufgabe, die den Helfern auch an diesem Tag vieles abverlangt. Treffpunkt Erlhof, sechs Uhr morgens. Eine kleine Gruppe Menschen versammelt sich am Parkplatz des Gasthofes. Das Frühstück haben sich die meisten für später in Brotdosen verpackt, einige müssen nachher noch in die Arbeit. Es sind gerade diese Helfer, auf die der Verein so dringend angewiesen ist. Denn Geld bekommen sie keines. Equipment wie Walkie-Talkies, Seile, Kisten und auch die Drohne muss der Verein sich mühsam zusammensparen.
Startschuss am Vatertag
„Ein paar sind schon unterwegs, die fliegen gerade noch eine Wiese ab und kommen dann nach. Drei Kitze haben sie schon gefunden“, erzählt Susanne Kunisch. Ein Jäger ist auch dabei, das ist Pflicht. „Der Jäger spricht meistens mit dem Landwirt ab, wann wir auf die Wiesen dürfen. Wir selbst dürfen die Kitze nur an den Rand setzen. Sollte aber etwas passieren, wenn ein Kitz beispielsweise verletzt ist, dann darf nur der Jäger eingreifen. Sonst wäre das Jagdwilderei.“ Susanne Kunisch kam durch Zufall zur Rehkitzrettung. Ein Artikel über den Mähtod ist es, der sie nicht mehr loslässt. Sie meldet sich bei der Organisation Rehitzrettung an – doch zwei Jahre lang erhält sie keinen einzigen Auftrag. Bis sie 2020 Kontakt zu einem Jäger herstellt: „Auf einmal habe ich einen Anruf von einem Landwirt bekommen, der ganze 40 Hektar Land absuchen lassen wollte. Damals hatten wir weder eine Drohne noch genug Helfer. Alleine hätten meine zwei erwachsenen Kinder und ich das niemals abgehen können.“
Doch Susanne Kunisch ist fest entschlossen – und nimmt Kontakt zu Radio Ramasuri auf. Der Aufruf im Radio zeigt Wirkung. „Plötzlich habe ich so viele Anrufe bekommen von Menschen, die uns unbedingt unterstützen wollten. An Vatertag 2020 konnten wir so das gesamte Gebiet absuchen.“ Es ist der Startschuss für die Rehkitzrettung Amberg-Sulzbach.
Hightech dank Wärmebild
Seitdem nehmen die Anfragen von Landwirten zu. 26 Einsätze zählt die Rehkitzrettung Amberg-Sulzbach in dieser Saison bisher. Wetterbedingt war diese am 22.5. etwas später gestartet als gewöhnlich. Gegen Ende Juni, Anfang Juli ist die Saison meist vorbei. „Eine typische Suche wird je nach Hektargröße der Fläche entweder mit der Drohne mit Wärmebildkamera oder zu Fuß geplant. Gerade die Drohneneinsätze beginnen sehr früh, meist schon um 4 Uhr. Um diese Uhrzeit ist der Boden noch kälter als das Rehkitz und der Pilot und der Spotter können die Kleinen deutlich erkennen.“
Konzentration am Bildschirm
Die Aufgabe des Spotters übernimmt an diesem Tag Selina, die Tochter von Susanne Kunisch. Konzentriert beugt sie sich über den Bildschirm, die aufgehende Sonne blendet. „Könnt ihr bitte ein bisschen leiser sein?“, fragt sie die umstehenden Helfer. „Wir müssen uns hier echt fokussieren.“ Ein weißer Punkt auf dem Bildschirm – das könnte ein Rehkitz sein. Helfer machen sich auf den Weg, Selina Kunisch weißt ihnen per Funkgerät den Weg. Doch falscher Alarm, der weiße Fleck war lediglich ein warmer Erdhaufen. In der Wiese gegenüber hingegen ist der weiße Punkt am Bildschirm bestimmt ein Rehkitz, da ist sich Susanne Kunisch sicher: „Wir haben eben schon die Geiß aus dem Wald schauen sehen, die beobachtet uns ganz genau.“ Doch dieses Rehkitz kann heute noch entspannt liegen bleiben – denn die Wiese, in der es liegt, wird erst morgen gemäht. „Es macht keinen Sinn, das Kitz heute schon raus zu setzen. Es wäre gut möglich, dass seine Mutter es morgen dann in genau derselben Wiese wieder ablegt. Deshalb durchsuchen wir die Wiesen erst, wenn auch möglichst kurz danach gemäht wird.“ In manchen Wiesen stehen Scheuchen, die die Geiß daran hindern sollen, ihr Kitz dort abzulegen. „Das funktioniert aber nur am Vortag, sonst hat sich die Geiß schon dran gewöhnt“, weiß Susanne Kunisch.
Der erste Fund im hohen Gras
Es gibt noch viele Wiesen, die abgesucht werden müssen an diesem Tag. Deshalb trennt sich die Gruppe. Ein paar Helfer fahren los, um die Flächen zu Fuß abzugehen. An einem Seil aufgereiht, mit maximal einem Meter Abstand laufen sie durch jedes Feld. Die Augen suchend nach unten gerichtet, mit kurzen Stäben teilen sie die Grasbüschel, um einen Blick auf den Boden zu erhaschen. Und dann, das erste Rehkitz: Geduckt und ganz versteckt liegt es in einem kleinen Grasnest, fast hätten Helfer es übersehen. Mit Handschuhen und Grasbüscheln wird das Kleine in eine sichere Kiste gelegt und zum schattigen Waldrand transportiert. „Es ist wichtig, dass wir Handschuhe tragen, denn das Kitz hat selbst keinen Eigengeruch. Wenn wir es direkt anfassen kann es sein, dass die Mutter es nicht mehr annimmt“, erklärt Susanne Kunisch. „Durch einen beschwerten Deckel verhindern wir außerdem, dass Füchse oder Greifvögel an das Kitz herankommen.“ Die Entzückung über das kleine Rehkitz ist groß. Schnell werden Fotos gemacht. „Das zeige ich nachher gleich meiner Kollegin, die fragt mich schon immer, ob wir was gefunden haben“, erzählt eine Helferin. Zugegeben: Die kleinen Kitze sind unfassbar goldig, die Vorstellung, welch grausames Schicksal sie vielleicht erwartet hätte, kaum zu ertragen. Es sind Funde wie diese, die die Helfer antreiben, noch genauer zu suchen.
Knochenjob Rehkitzrettung
Sich zu Fuß durch teilweise brusthohes Gras zu kämpfen ist schon anstrengend genug. Dabei noch nach den winzigen Kitzen Ausschau zu halten – eine Mammutaufgabe. Gerade morgens sind die Wiesen noch nass, wer hier keine Anglerhose und Gummistiefel trägt, ist nach nur einer Wiese bis auf die Socken durchnässt. Nur wenige Felder sind eben, meistens laufen die Helfer bergauf und bergab. Mittags kapitulieren die ersten: „Ich kann einfach nicht mehr. Wenn ich jetzt noch weitergehe, kann ich morgen nicht mehr laufen.“ Es ist ein Knochenjob, den die Rehkitzrettung Amberg-Sulzbach da leistet. Kein Wunder, dass sie immer noch nach Helfern suchen. „Gerade bei großen Aufträgen brauchen wir mehrere Gruppen, die sich abwechseln können. Das hält man kaum den ganzen Tag durch“, erklärt Susanne Kunisch.
Insgesamt fünf Rehkitze finden die Helfer an diesem Tag. Bis 17 Uhr waren einige von ihnen unterwegs. Susanne Kunisch und ihr Team – sie machen das oft mehrere Tage hintereinander. Trotzdem ist die Rehkitzrettung ihre große Leidenschaft: „Unser Wunsch für die Zukunft ist, dass sich noch mehr Landwirte bei uns melden und es auch einrichten können, vormittags ihre Wiesen zu mähen. Außerdem wollen wir uns noch mehrere Drohnen anschaffen. So könnten wir uns im Landkreis noch besser verteilen und mehrere Landwirte gleichzeitig unterstützen.“ Für die Landwirte kostet der Einsatz der Rehkitzrettung übrigens nichts. Ihre einzige Verpflichtung ist das Mähen direkt nach der Suche. „Es gibt eigentlich keinen Grund, uns nicht zu rufen.“
Später, wenn alle Wiesen abgemäht sind und wieder Ruhe einkehrt, setzen ein paar Helfer die Kitze wieder aus den Kisten heraus. Sie warten, bis die Geiß sich aus dem Wald heraus traut und ihr Junges wieder abholt. Meistens hat sie das Treiben aus sicherer Entfernung beobachtet und weiß ganz genau, wo ihr Kitz gerade ist. Wenn Mutter und Kind vereint von Dannen ziehen, ist der Job der Rehkitzrettung erledigt. Bis ein neuer Auftrag eintrudelt – und das Ganze wieder von Vorne beginnt.
Den Rehkitzrettern kann man gar nicht genug danken! Vielleicht könnten sich die Gemeinden im Gegenzug etwas Nettes als Dankeschön für diese Freiwilligen einfallen lassen.
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