"Unabhängige Medienhäuser sind zentral für die Demokratie"

Oberpfalz
31.05.2021 - 01:51 Uhr

Der aus der Oberpfalz stammende Kommunikationswissenschaftler Prof. (FH) Dr. André Haller über Meinungsbildung, kritische Berichterstattung und die Finanzierung journalistischer Inhalte.

Professor André Haller

ONETZ: Herr Professor Dr. Haller, Sie werden in diesem Jahr 37. Sie gehören zur Generation der Millennials – technik- und internetaffin – und lesen Zeitung. Warum eigentlich?

André Haller: Ich glaube,das hat viel mit Sozialisation zu tun. Als ich als Kind in der Früh aufgestanden bin, lag bei uns immer schon die Zeitung auf dem Küchentisch. Die habe ich dann oft durchgeblättert, die Bilder angeschaut, mit zunehmendem Leseverständnis auch mal reingelesen, wenn eine Schlagzeile interessant war oder ich jemanden auf den Bildern erkannt habe. Das ist bei mir tatsächlich so geblieben.Heute habe ich nicht mehr die gedruckte Ausgabe, sondern das E-Paper. Und das lese ich wirklich regelmäßig. Das führtsogar so weit, dass ich selbst auf Konferenzen im Ausland auf dem Handy lese. Wenn nicht, dann fehlt mir einfach etwas.

ONETZ: Wie kommt das?

André Haller: Wir Menschen sehen gerne Menschen, die wir kennen. Und man bekommt natürlich durch die Headliner-Artikel die wichtigsten Informationen aus der Heimat mit. Manchmal kann man natürlich auch lachen, zum Beispiel durch kuriose Geschichten. Oder man liest den Insider heraus, wenn man den Redakteur kennt oder den Protagonisten in der Geschichte – zum Beispiel in den Ankündigungen der Bettler-Big-Band in Sulzbach. Das ist für mich jedes Jahr ein Highlight. Das ist Identifikation mit der Heimat. Die Heimatzeitung gehört für mich dazu.

ONETZ: Bei vielen anderen Menschen ihrer Generation ist das anders. Wieso?

André Haller: Eine Zeitung ist nicht ganz billig, das darf man nicht vergessen. Daneben gibt es einen Verdrängungswettbewerb mit dem Internet, wo eben eine Gratismentalität herrscht. Viele wissen einfach, sie kriegen die wichtigsten Weltinformationen ja eh kostenfrei, oder zumindest werbefinanziert kostenfrei. Warum sollten sie also noch Geld auf den Tisch legen, um zusätzlich Lokalnachrichten zu bekommen? Gerade bei jüngeren Leuten ist das so. Das zeigen auch Mediennutzungsdaten.

ONETZ: Trotzdem müssen diese Inhalte produziert werden. Auch wenn sie kostenlos zur Verfügung gestellt werden ...

André Haller: In irgendeiner Weise zahlt der Leser ja trotzdem, zumindest mit seiner Aufmerksamkeit, die auch auf Werbung gerichtet ist. Oder durch Daten, wie bei Facebook und anderen Anbietern. Ich glaube aber, dass bei vielen Menschen mittlerweile auch das Verständnis fehlt, dass Journalist ein Beruf ist wie Metzger, wie Bäcker oder Hochschulprofessor und dass jeder natürlich bezahlt werden will.

ONETZ: Wie lässt sich dieses Finanzierungsproblem lösen?

André Haller: Das ist ein großes Rätsel. Ein Kollege aus Bamberg hat vor Jahren eine heiß diskutierte These aufgestellt: Er hat gesagt, wenn der Bundesverband der Zeitungsverleger früher gesagt hätte, wir machen eine einheitliche Paywall und alle machen mit – wer weiß, wie’s heute aussehen würde. Vielleicht hätte das funktioniert. Wenn man sich das recht überlegt, ist es bei Musik ja ähnlich. Da hat man sich auch gedacht, die Leute tauschen übers Internet, es wird alles verramscht. Dann ist Apple gekommen und hat einen Store aufgemacht, in dem ein Song 99 Cent kostet. Das hat super funktioniert. Nach dieser Logik funktionieren übrigens auch die Streaming-Dienste, die sehr erfolgreich sind.

ONETZ: Qualität spielt bei den Kauferwägungen der Leser keine Rolle?

André Haller: Wenn es etwas kostenlos gibt, wird der Mensch immer zuerst zum Kostenlosen greifen. Vielleicht merken die Menschen aber auch irgendwann, dass die Qualität drunter leidet.

ONETZ: Wie steht es um das Bewusstsein, dass es guten Journalismus braucht?

André Haller: Das fehlt manchmal. Man muss sich aber fragen, wie die Gesellschaft ohne hauptberufliche Journalisten aussehen würde. Diese Umgebung wäre quasi durchtränkt von PR und Marketing, wäre nur rein von Marktlogik getrieben. Die USA sind hier ein gutes Beispiel. Dort gibt es praktisch keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk – dementsprechend ist das Fernsehprogramm. Ein Fernsehsender oder ein Printprodukt ist natürlich wirtschaftlich erfolgreicher, wenn es auf Society-News, auf Unterhaltung oder Skandal-Berichterstattung wert legt. Doch das führt zu Polarisierung. Deshalb sind unabhängige Medienhäuser – egal, ob groß oder klein – wirklich zentral für Demokratie. Ansonsten wäre niemand mehr da, der halbwegs unparteiisch einordnet.

ONETZ: Unparteiisch sein – geht das überhaupt?

André Haller: Natürlich ist kein Journalist, kein Medienhaus völlig unparteiisch. Das ist auch gut so. Aber durch die breite Masse an Angeboten gleicht sich das wieder aus.

ONETZ: Medien sollen an der Meinungsbildung mitwirken und unparteiisch sein. Ist das nicht ein Widerspruch?

André Haller: Nein, Redakteure wirken an der Meinungs- und Willensbildung mit. Das bedeutet, dass man auch als Redakteur eine eigene Meinung vertreten soll. Das geschieht natürlich in meinungsbetonten Texten. Viele Menschen kennen jedoch den Unterschied zwischen einer Nachricht einerseits und andererseits einem Kommentar oder einer Glosse nicht. Das ist ein Problem. Man müsste die Unterschiede noch viel stärker darstellen und erklären, dass ein bestimmter Text ein Meinungstext ist und gerne diskutiert werden darf.

ONETZ: Berichterstattung ist oft Ziel von Kritik. Mal beschwert sich die eine Seite über zu kritische Berichterstattung, mal fühlt sich die andere nicht richtig dargestellt. Läuft hier alles falsch – oder doch ganz gut?

André Haller: Wenn sich alle beschweren, läuft wohl was richtig. Dann sitzt der Stachel irgendwo bei den Leuten. Das Phänomen gab es aber früher auch schon. Unionsanhänger haben in den 60er und 70er Jahren die „Süddeutsche“ verteufelt, die Sozialdemokraten die „Welt“, weil die natürlich eine andere Blattlinie verfolgten. Politiker, gerade im Lokalen, sind oft entsetzt, wenn eine Pressemeldung redigiert wird und vielleicht noch mit einigen Informationen angereichert. Auf Abgeordnetenebene läuft das anders. Die verstehen, wie das Zusammenspiel funktioniert, dass ein Medium keine Litfaßsäule ist. Lokalpolitjournalismus ist ein schwieriges Metier, weil da die Verbindungen enger sind, weil man sich kennt. Für Lokalredakteure ist das eine Herausforderung.

ONETZ: Gerade diese räumliche und personelle Nähe sorgt immer wieder für Zündstoff. Da stellt sich die Frage: Wofür braucht es Journalismus speziell im Lokalen?

André Haller: Wichtig ist, den Leuten zu erklären, was sie wirklich an einem lokalen Medienhaus haben. Wie sollen sie sonst an valide Informationen kommen, eben über Lokalpolitik zum Beispiel? Klar können Sie zur Stadtratssitzung gehen, aber da bekommen Sie keine Einordnung, keine Erinnerung an Sitzungen in der vorvorletzten Periode, wo das Thema auch schon einmal besprochen worden ist. Dafür braucht man lokale Medienhäuser.



ONETZ: Wie können sich traditionelle lokale Medienhäuser im Wettbewerb behaupten?

André Haller: Neuere und ältere Medien sind interdependent, voneinander abhängig. Da wird in der Zeitung ein Trump-Tweet zitiert und Facebook ist im Gegenzug darauf angewiesen, dass die Zeitung Videos postet. Die Digitalisierung verschwindet nicht mehr. Genauso wird aber die Zeitung weiter als Medium existieren. Es wird immer Redakteure geben. Doch jeder Einzelne hat nur ein beschränktes Kontingent für den Medienkonsum. Deswegen müssen Zeitungen im Kampf um die Aufmerksamkeit mit neuen Formaten arbeiten. Jüngere Leser wünschen sich eben eher kurze News, statt lange Vier- und Fünfspalter.

ONETZ: Besteht nicht die Gefahr, dass Information auf der Strecke bleibt, und Leser Themen weniger durchdringen?

André Haller: Jein. Online geht viel mehr als in Print. Sie können mehr mit Bildern arbeiten, mit Videos, kurzen Lesestücken. Im Prinzip müssen Sie die Themen für Online nur anders aufarbeiten als für Print. Jedes Medium hat andere Anforderungen Das bedeutet für den Redakteur, dass er mehr technisches Know-how benötigt als die Vorgänger-Generation. Ich sehe die Digitalisierung daher für die Zeitungen eher als Chance.

ONETZ: Inwiefern?

André Haller: Nehmen Sie zum Beispiel die Panama-Papers. Das ist ja ein komplexes, eher dröges Thema. Bei der „Süddeutschen“ hat man es in Print ganz anders aufbereitet als online. Das hat super funktioniert. Missionierungseifer und eine überhöhte Perspektive des Redakteurs sind heute fehl am Platz: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht umgekehrt. Man muss schon gucken, wie man die Story verpackt. Lange Zeitungsgeschichten ließen sich für Online meist problemlos auf zehn Sätze kürzen.

ONETZ: Wie sieht nach Ihrer Einschätzung die Zeitung der Zukunft aus?

André Haller: Vielleicht haben Lokal-Blätter bald schon keinen überregionalen Politikteil mehr. Aber sie können große Themen aufs Lokale herunterbrechen. Vielleicht erscheint die Tageszeitung in absehbarer Zeit auch nur noch drei- oder viermal in der Woche. Eines ist aber sicher: Redakteure wird es immer geben. Wer sonst soll die Nachrichten aufbereiten?

Weiden in der Oberpfalz27.05.2021
Info:

Oberpfälzer in Österreich

Prof. (FH) Dr. André Haller stammt aus Sulzbach-Rosenberg und lehrt als Kommunikationswissenschaftler an der Fachhochschule Kufstein Tirol unter anderem im Studiengang "Digital Marketing". Praktische Medienerfahrung sammelte er während seiner Ausbildung auch als Mitarbeiter der Sulzbach-Rosenberger und Amberger Zeitung. Seiner Heimat ist er trotz des Rufes an die Kufsteiner Hochschule treu geblieben. Zusammen mit Frau Lisa wohnt er in Sulzbach-Rosenberg.

Hintergrund:

„Blasen“ kein neues Phänomen

Ein „Like“ hier, ein „Like“ dort – und schon hat Facebook einen weiteren Hinweis auf Vorlieben und Meinungen des Nutzers. Beim nächsten Lesevorschlag in der „Timeline“ wird das berücksichtigt. Fertig ist die „Blase“, das mund- und meinungsgerechte Bild von der Welt und den Dingen, die sie antreiben. Doch: „Die Menschen werden nicht in Blasen gedrängt. Ihr Umfeld, ihre Erziehung und Vorprägung spielen eine wichtige Rolle“, sagt Kommunikationsexperte André Haller.

Außerdem: „Blasen sind so alt wie die Gesellschaft selbst. Von jeher bildet man sich ein eigenes Umfeld.“ Früher seien diese Gruppen allerdings klarer abgegrenzt gewesen: „Durch das große Angebot an Medien und Konsumgütern bastelt sich heute jeder seine Lebensart zusammen. Ganz spezielle Glaubensmilieus können entstehen.“

Facebook könne relativ sicher abschätzen, in welchen Milieus sich der „User“ bewege. Zeitungen täten sich da schwerer, da die klassischen Zielgruppendefinitionen nicht mehr möglich seien. Aber auch hier würden „Blasen“ bedient, ein TAZ- oder FAZ-Leser wird sich bei der Lektüre seiner Zeitung ähnlich bestätigt finden, wie der Facebook-Nutzer in seinem Sozialen Medium. (tt)

Dr. André Haller in seiner neuen Wirkungsstätte, der Fachhochschule Kufstein Tirol.
 
 

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