Ehemalige Schüler sprechen über ihre Zeit im kirchlichen Internat: Das Knabenseminar: "Knast" oder Chance

Weiden in der Oberpfalz
02.02.2018 - 20:00 Uhr

Für die einen waren es die "schlimmsten Jahre des Lebens". Für die anderen die einzige Chance, als Kind vom Land zum Abitur zu kommen. Fast 1500 Schüler besuchten in den 34 Jahren seines Bestehens das Bischöfliche Knabenseminar. Der Rückblick fällt höchst unterschiedlich aus.

Eines änderte sich 34 Jahre lang nicht: dass Seminaristen gerne Fußball spielen. Bilder: exb (3)

Eine ganze Reihe Ehemaliger hat sich nach dem Artikel "500 Euro für den ganzen Horror" (21. Januar)bei der Redaktion gemeldet. Darin beklagt Franz Wechsler ein "Klima des Schreckens", der Demütigungen und Züchtigungen. Er war von 1970 bis 1974 im Internat.

Die Schüler von einst haben eine sehr individuelle Sicht auf ihre Seminarzeit. Am besten beschreibt es vielleicht ein 60-Jähriger aus dem Altlandkreis Vohenstrauß, der festhält: "Ich treffe regelmäßig Kollegen aus der damaligen Zeit. Wir sind ganz unterschiedlicher Meinung darüber, wie alles zu bewerten ist."

Der Zeitpunkt und die jeweiligen Präfekten spielen eine große Rolle. Aus den Jahren nach der Eröffnung 1955 meldeten sich zwei Seminaristen. Bei ihnen überwiegen Erinnerungen an lebhafte Fußballspiele. Auch wenn das Internatsleben schon als hart empfunden wurde: "Als Fünftklässler durften wir von Weihnachten bis Ostern nicht nach Hause", erzählt ein 68-Jähriger. Er kam mit zehn Jahren ins "Bischöfliche". Dafür erinnert er sich nur an eine einzige Ohrfeige, die ein Mitschüler nach einer Stinkbombe im Schlafsaal kassiert habe. Er schätzte die Gemeinschaft der Buben, "auf die wir stolz waren".

Ganz anders schilderten sechs Ehemalige ihre Zeit Ende der 60er/Anfang 70er Jahre. Sie sprechen unabhängig voneinander von "Prügel" und "Psychoterror". Dabei fallen vor allem die Namen von zwei jungen Präfekten, Ludwig W. und Georg S. (beide inzwischen verstorben), die 1965 und 1966 unmittelbar nach ihrer Priesterweihe ins Seminar gekommen waren. Sexueller Missbrauch war laut dieser Ehemaligen kein Thema in Weiden, auch wenn 1972 bis 1973 ausgerechnet Georg Zimmermann Musikpräfekt war. Zimmermann hatte 1959 nach neun Monaten seinen Posten als Direktor der Domspatzen räumen müssen und war 1969 in Weiden wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden.

Die Wende erfolgte 1973, als Georg Weinzierl Direktor wurde. Fotograf Georg Schraml, von 1966 bis 1975 Seminarschüler, erinnert sich: "Als Weinzierl die Leitung übernahm, lernte ich einen Menschen kennen, der mein weiteres Leben entscheidend mitgeprägt hat - mehr, als mir zu dieser Zeit bewusst war. Für mich war es damals, als ob einer die Fenster öffnen würde, um frischen Wind in die verstaubten Gemäuer einer eng katholischen Welt zu lassen."

Weinzierl selbst wies in seiner Antrittsrede darauf hin, dass "das Seminar nicht mehr das Seminar der Vergangenheit" sein könne. Wolfgang Benkhardt, NT-Ressortleiter in Tirschenreuth, machte 1985 Abitur. Er beschreibt Weinzierl als "väterlichen Freund". Über die Einschränkungen, die man in den 80ern hinnehmen musste, kann er heute schmunzeln: Tanzkurs und Französisch waren für Seminaristen nicht vorgesehen.

Auch der Tagesablauf wurde in den 70ern etwas gelockert. Davor hatte gegolten: 6 Uhr Wecken, 6.15 Uhr Gottesdienst in der Hauskapelle, 7 Uhr Morgenstudierzeit, 7.30 Uhr Frühstück, 8 Uhr Schule, 13 Uhr Mittagessen, 13.30 Uhr Freizeit. "Der Stadtausgang am Nachmittag sah so aus, dass die ersten beiden Klassen im Zug marschiert sind", berichtet ein Ehemaliger. Um 15 Uhr begann die Studierzeit, unterbrochen von einer Brotzeit, bis 18.30 Uhr. Abendessen, Abendgebet, Nachtruhe. Höhepunkt der Woche: Sonntagabend, gemeinsames "Bonanza"-Fernsehen.

"Die schlimmsten Jahre meines Lebens"

"Das war gnadenloser religiöser Psychoterror. Ein elender Laden", sagt Paul M. (alle Namen geändert). Er möchte mit Rücksicht auf die Familie seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Präfekt Georg W. habe ihn einmal so verprügelt, dass er zu Boden ging. "Dieser Präfekt hat so schnell und heftig zugeschlagen, dass man hätte meinen können, er gehört in die Psychiatrie." Das Prügeln einzelner Schüler sei regelrecht inszeniert worden: "Mir ist da beim Zuschauen schlecht geworden."

Nach sechs Jahren am Bischöflichen Knabenseminar trat dieser Präfekt 1972 eine Pfarrerstelle im Raum Oberviechtach an. "Viel schlimmer als die körperlichen Züchtigungen war der konstante und massive religiöse Psychoterror. Ständig saß einem der Teufel oder die Hölle im Nacken." Er habe das nur halbwegs ertragen können, weil er zwei gute Freunde hatte.

Der Eschenbacher war Halbwaise. Die Mutter stand Anfang der 60er nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit fünf Kindern allein da. Sie musste sich Arbeit suchen und gab die älteren Söhne ins Internat nach Weiden. Das "Bischöfliche" war kostenfrei, solange der Notendurchschnitt unter 2,5 lag. Für Paul M. waren gute Noten nie ein Problem: "Wir konnten ja nur lernen." Dazu kamen Strafarbeiten. "Oft habe ich die ganzen Freizeiten durchgeschrieben."

Seine Zeit im Internat währte sieben Jahre. "Dann habe ich das überhaupt nicht mehr ertragen." Die letzten beiden Jahre konnte er als Fahrschüler ins Gymnasium pendeln. Am Ende hatte Paul M. "ein sehr gutes Abitur - und die Schnauze voll". Er verpflichtete sich bei der Bundeswehr und bestätigt, dass die Behauptung des Psychoanalytikers Mitscherlich seine Berechtigung habe: "Wer streng religiös erzogen wurde, dem kommen die Militärstiefel wie Tanzschuhe vor."

"Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens", sagt Hans S. , ein ehemaliger Schüler aus dem Landkreis Neustadt/WN, heute in leitender Position in einem Weidener Unternehmen. "Ich habe davon heute noch Alpträume." Der 60-Jährige kam im Alter von zehn Jahren 1968 ins Bischöfliche Seminar. "Ich kam aus einer behüteten Familie. Die Konfrontation mit Gewalt war für mich dramatisch." Und damit meine er nicht die obligatorischen "Watsch'n", die man beim Abfragen für jedes nicht gelernte Verb bekam. "Das war mehr: Die hatten Freude am Prügeln."

Er und seine Mitschüler hätten ansehen müssen, wie ein Präfekt einen Kameraden so geschlagen habe, dass dieser einen schweren orthopädischen Schaden davongetragen habe. Hans S. trat später aus der Kirche aus, "wie viele meiner Klassenkameraden auch": "Der Kontrast war extrem: Im Gottesdienst wurde die Liebe gepredigt - andererseits gab es diese Gewaltorgien."

Alois S. (68) aus dem Landkreis Amberg-Sulzbach versucht bis heute, die Adresse seines damaligen "Peinigers" zu ermitteln, eines Präfekt, der später das Priesteramt aufgab. "Ich war von 1960 bis 1969 im Internat und kenne die von Herrn Wechsler geschilderten Zustände zur Genüge." Ihm gehe es "nicht um späte Rache oder irgendwelche Geldzuwendungen". Er würde den damaligen Präfekten nur gerne fragen, "was ihn damals bewogen hat, unsere Kinderseelen so zu quälen, und wie er heute dazu steht". (ca)

Viel schlimmer als die körperlichen Züchtigungen war der konstante und massive religiöse Psychoterror.Paul M. (Name geändert)

"Die positiven Erlebnisse überwiegen bei weitem"

Norbert Graf war ab 1961 sechs Jahre lang im Seminar. Drei seiner Brüder folgten Ende der 60er/Anfang 70er Jahre. "Mein Erleben rechtfertigt eine solche Überschrift nicht", so der Kümmersbrucker. "Es stimmt: Zu geringer Lernerfolg und das Nichteinhalten von Regeln wurden vor allem in den ersten beiden Klassen durchaus häufig mit Watschen, Kopfnüssen und verbalen Ausfällen durch einen jungen, cholerisch veranlagten Präfekten sanktioniert; nicht alles habe ich als gerecht empfunden. Das war die eine Seite der Medaille."

Die andere Seite ist für Norbert Graf die Förderung der Schüler: "Die andere Seite war, dass Schüler durch Abfragen, Übungsarbeiten und Nachhilfe maximal gefördert wurden das Klassenziel zu erreichen. Aber auch musische Angebote, Freizeit, Sport und Spiel kamen nicht zu kurz. Meine positiven Erlebnisse überwiegen die negativen bei weitem. Es gab, vor allem in den höheren Klassen, durchaus Raum für selbstbewusstes Auftreten." Er selbst habe nach einer Meinungsverschiedenheit mit dem Seminardirektor wegen eines Schülerstreiches und "nachdem mir klar war, dass ich kein Priester werden würde, nach sechs Jahren ohne Zorn das Seminar verlassen" und als Fahrschüler das Gymnasium besucht.

Nicht unerwähnt bleiben sollte aus seiner Sicht die bildungspolitische Leistung der Diözese: "Erst das Seminar hat vielen Kindern aus den ländlichen Regionen der nördlichen und östlichen Oberpfalz und überwiegend aus einfachen Verhältnissen die Chance zum Abitur geboten." Zum einen, weil der öffentliche Nahverkehr noch nicht so ausgebaut gewesen sei wie heute, zum anderen, weil die Diözese die Heimkosten für die Kinder entsprechend den finanziellen familiären Verhältnissen großzügig bezuschusst habe. "Die wenigsten Seminaristen sind Priester geworden, viele von ihnen haben ihre Chance genutzt und sind ihren Weg als Lehrer, Ingenieure, Ärzte oder Juristen gegangen."

Dankbar blickt Alois Köppl aus Gleiritsch zurück. "Ich bin nach wie vor dankbar, dass ich als Kind vom Land die Möglichkeit bekam, eine solche Schule zu besuchen." Er trat 1968 ein (Abitur 1977). Aufgrund des fehlenden "Bustourismus" habe es für Schüler vom Dorf kaum eine andere Möglichkeit gegeben, eine weiterführende Schule wie ein Gymnasium zu besuchen. Das Internat war kostenpflichtig, Köppl erinnert sich an 150 D-Mark im Monat, zu bezahlen von den Eltern. Die Kritik von Franz Wechsler will er nicht so stehen lassen: "Er hätte doch das Seminar verlassen oder wechseln können, anstatt nach fast einem halben Jahrhundert mit diesen Beschuldigungen zu kommen." (ca)

Erst das Seminar hat vielen Kindern aus ländlichen Regionen die Chance zum Abitur geboten.Norbert Graf

Anerkennung auf 1000 Euro aufgestockt

Die Deutsche Bischofskonferenz hat 2010 Leitlinien zum Umgang mit Fällen des sexuellen Missbrauchs beschlossen. Das Bistum Regensburg bietet zusätzlich - deutschlandweit einmalig - auch Opfern von körperlicher Gewalt Anerkennungsleistungen an. 2017 konnten dazu Anträge gestellt werden, 75 Opfer meldeten sich. Darunter Franz Wechsler, ehemaliger Seminarist in Weiden, der heute in Nepal lebt.

 
 

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