München. Wie lange ein Leben "zu lange" dauern kann, das weiß er wohl erst jetzt, da er vor kurzem seinen 75. Geburtstag erlebt hat, so richtig. In einem Interview betonte er neulich noch einmal, dass das eigentlich "nicht sein Programm gewesen, so alt zu werden". Aber so geht's nun mal im Leben. Wolf Wondratschek muss es aushalten, dass er alt geworden ist. So alt, dass ihm der Ullstein-Verlag nun sogar eine Gesamtausgabe seiner Gedichte bereitet hat. Ein schöner Zug und ein schönes Geschenk, diese 13 Bändchen in einem stabilen Schuber für nur 58 Euro. Wolf Wondratschek ist jedenfalls, und das zu recht, auf dem besten Wege, eine Art Klassiker zu werden.
Genuiner Lyriker
Hier, in diesem Schmuckschuber, hat man nun also alles beieinander, was einen wesentlichen Teil dieses Autors ausmacht. Wondratschek selbst sagt, dass er am liebsten Gedichte schreibe. Und auch dort, wo das von ihm Verfasste eine andere Form annimmt - zum Beispiel die des Romans oder der Reportage -, bleibt doch immer spürbar, dass hier ein genuiner Lyriker schreibt. Einer, der für eine bestimmte Zeitspanne in der Lage war, das Lebensgefühl vieler auszudrücken. Gemeint sind die ihm treu folgenden Leser der unmittelbaren Nachkriegsjahrgänge, aus denen sich später auch die 68er rekrutierten. "Eine ganze Generation ließ den Kopf hängen, / gerade erst geboren, und schon traurig und müde" hieß es beispielsweise in dem Langgedicht "Carmen oder ich bin das Arschloch der achtziger Jahre".
Unvorstellbare 300 000mal verkaufte sich Wondratscheks erster Gedichtband "Chuck's Zimmer". Damit begann eine singuläre Autorenkarriere, die sich nicht nur in erstaunlicher Ferne vom etablierten Literaturbetrieb vollzog, sondern die den Autor auch auf Themenfelder führte, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Wolf Wondratschek schrieb über Prostituierte und Bordellbesitzer in St. Pauli, er verfasste einige der besten Reportagen über den Boxsport. Aber er schrieb eben auch, je mehr er den "angry young man" hinter sich ließ, über klassische Musik, über exemplarische Künstlerexistenzen, so etwa in dem erstaunlichen Roman "Mara" von 2003, in dem ein Cello quasi die Hauptfigur abgibt.
Und nun gesellt sich zu der Gesamtausgabe der Gedichte auch noch ein neuer Roman hinzu, der ebenfalls termingenau zum 75. Geburtstag erschienen ist. Er spielt in jener Stadt, in der Wolf Wondratschek seit 20 Jahren lebt, nachdem er München mehr oder weniger fluchtartig verlassen hat. Das Image, das ihm dort anhing, war ihm unerträglich geworden. In Wien dagegen lebt er eigener Aussage nach eher wie ein unerkannter Flaneur. Das passt gut, denn das Umherstreifen durch die Stadt und das Aufsaugen einer speziell in Wien immer noch spürbaren "untergegangenen Welt" ist genau das, woraus sich schon seit Jahren Wondratscheks Geschichten und Bücher speisen. Schönstes Beispiel: der wunderbar zaubervolle Roman "Mozarts Friseur", in dem das Musikergenie Wolferl tatsächlich reinkarniert durch das Wien des Jahres 2002 spaziert.
Auch im neuen Roman spielt die Welt der klassischen Musik eine wichtige Rolle. Sie ist für Wolf Wondratschek ein unablässiger Quell der Inspiration. Er, der in seiner Frühphase eher den Rock'n'Roller gab, ist nämlich ein ungeheuer beschlagener E-Musik-Liebhaber, angefangen von Schubert über Mozart und Sibelius bis zu den heutigen Neutönern. Ein Aspekt mehr, der das weitgespannte Interessensfeld dieses Autors unterstreicht.
In "Selbstbild mit russischem Klavier" ist es nun ein ehemaliger, gefeierter Klaviervirtuose, der im Mittelpunkt des Buches steht, ein mittlerweile alter, etwas kauziger Mann namens Suvorin, er stammt nämlich aus der ehemaligen Sowjetunion. Doch die Zeiten seiner Erfolge auf den Konzertpodien dieser Welt sind lange vorbei. Auch diesem Buch könnte folglich als Motto vorangestellt sein: "Ich brauche keine Zukunft. / Das Leben zählt nicht. / Es dauert zu lange." Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass es in diesem Fall eben von einem alten Mann gesprochen würde, der keineswegs mehr das halbe Leben vor sich hat, sondern tatsächlich am Ende angekommen ist. Und da herrscht eher Melancholie, ja teilweise Bitternis vor, ein Fazit des Ge- und Erlebten fällt höchst ambivalent aus.
Ein Selbstbild
Man kann das sich in anekdotenhaften Kapiteln entfaltende Porträt Suvorins lesen als die Charakterstudie des gealterten Künstlers schlechthin. Und natürlich steckt auch einiges vom 75-jährigen Wondratschek darin, schließlich nennt er das Buch ja ein "Selbstbild". Was er zum Beispiel über die Hassliebe des Pianisten zu seinem Publikum erzählt, ließe sich bestimmt auch auf das Verhältnis von Autor und Publikum bei Lesungen übertragen. Der letzte Ton ist noch nicht richtig verklungen, da setzt schon das Toben der entzückten Zuhörerschaft ein, etwas, was Suvorin nie verstehen konnte. Ihm wäre viel lieber gewesen, die Leute wären schweigend nach Hause gegangen.
Und auch Wolf Wondratschek wird es sicherlich das Liebste sein, wenn man seinen Roman in der Abgeschiedenheit des alleinigen Lesens aufnimmt. Dass er kein Autor von Action und Handlung ist, weiß er selber und hat er eingeräumt. Dafür aber einer mit ungeheurem Stilempfinden, das, je älter er wird, immer noch feiner die Worte abwägt. Auf jeder einzelnen Seite seines Romans gelingen ihm Sätze, die es wert wären, in einem Gedicht zu stehen. Mit anderen Worten: Wolf Wondratschek ist ein verdammt cooler Dichter. Noch immer. Selbst in einem Roman. Und erst recht mit fünfundsiebzig.___Wolf Wondratschek: "Selbstbild mit russischem Klavier" (272 Seiten, 22 Euro, Ullstein-Verlag) Wolf Wondratschek: "Gesammelte Gedichte" (960 Seiten, 58 Euro, Ullstein-Verlag
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