Dass der Schokomann brutal malträtiert werden würde und in Stücke zerbricht, ahnt niemand im Publikum. Aber diese bildhafte Darstellung gehört ebenso zur Systemkritik, wie ein anfangs seltsamer Polizist, der nur seiner Arbeit nachgeht und eine verzweifelte Professorin, die als Terrorverdächtige gilt. 90 Minuten Verhör in Echtzeit – die digitale Uhr wird per Knopfdruck an die Wand projiziert. Und die Zeit scheint beiden davonzulaufen.
„Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann ist ein Stück unserer Zeit. Hat Carola Rackete erst vor kurzem zum zivilen Ungehorsam aufgerufen und Debatten ausgelöst, so rechtfertigt auch die Philosophie-Professorin Judith, ihre geschriebenen Werke über die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt. „Banken sind korrupt und Regierungen sind käuflich – das ist doch nicht neu“, schreit der Ermittler Thomas der Verdächtigen entgegen. Judith feuert zurück: „Und Sie stärken das System, das Sie zu bekämpfen versuchen!“
Erst nach und nach erfährt das Publikum, was der Professorin vorgeworfen wird. Ein Bombenanschlag um Mitternacht an Heiligabend. Gleichzeitig stellt man sich die Frage: Macht man sich dem Staat gegenüber verdächtig, wenn man sich als Lehrerin wohlwollend mit Frantz Fanon und anderen Theoretikern auseinandersetzt? Macht man sich verdächtig, wenn man zivilen Ungehorsam im Namen der Emanzipation der Geknechteten begrüßt? Er nennt sie „einen feinen Bürgerschreck“ mit der Begründung „wer sterben will, ist unbesiegbar“. Es ist 22:54 Uhr.
Wo sich diese vermeintliche Bombe befindet, muss der Ermittler herausfinden. Mit psychologischen Tricks versucht er an Antworten zu gelangen. Die intelligente linksorientierte Professorin hält dagegen. Es ist ein Duell, ein verbaler Schlagabtausch mit erschreckenden Handgreiflichkeiten, ja, gar körperlicher Gewalt. Sein genaues Amt wird nicht geklärt – er könnte auch Teil des Verfassungsschutzes sein. Seine Technik der Befragung führt knallhart vor Augen, welch apodiktische Dimension die Ausübung staatlicher Macht in unsicheren Zeiten annehmen kann.
Wanja Mues und Jacqueline Macaulay verkörpern gekonnt die Protagonisten des Stückes. Glaubwürdig und unerschrocken nehmen sie sich ihrer Rollen an und zeigen tiefe Abgründe der menschlichen Seele. Das Ende bleibt jedoch offen. Ratlosigkeit. Daniel Kehlmann spielt das Ego eines jeden Zuschauers gegen sich selbst aus. Ängste und Meinungen werden begründet, aber gleichzeitig in Frage gestellt. Sogar etwas Humor steckt drin, jedoch traut sich kaum einer zu lachen, aufgrund der Ernsthaftigkeit der Lage. Ein wahrer Bürgerschreck an Heilig Abend.
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