Der deutsche Pressekodex ist da ziemlich eindeutig. "Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid", heißt es in Ziffer 11. Unangemessen sensationell sei eine Darstellung dann, "wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird". Dies sei insbesondere dann der Fall, sagt der Presserat, "wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird". Bei Bildern von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten müsse die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche beachten.
In Bezug auf den Opferschutz steht im Pressekodex: "Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt."
Fotos von Massenerschießungen?
Vor dem Hintergrund zahlloser Massaker in den USA und des seit langem andauernden Streits um ein schärferes Waffenrecht hat Jon Allsop die Frage gestellt: "Müssen wir wirklich Fotos von Massenerschießungen sehen?" So hat er seinen Beitrag für das seit 61 Jahren in den Staaten erscheinende Journalisten-Magazin Columbia Journalism Review überschrieben. In seinem Artikel erwähnt Allsop, dass David Boardman, jetzt Dekan der Journalismus-Schule von Temple, nach den tödlichen Schüssen auf 19 Kinder und 2 Lehrer an einer Grundschule in Uvalde (Texas) Folgendes getwittert hat: "Ich hätte mir nicht vorstellen können, dies vor Jahren zu sagen, aber es ist an der Zeit - mit der Erlaubnis eines überlebenden Elternteils - zu zeigen, wie ein geschlachteter 7-Jähriger aussieht."
In einem Interview mit Charlotte Klein von Vanity Fair habe Boardman ausgeführt, dass es Momente in der Geschichte gebe - zum Beispiel das Handyvideo von 2020, das die Ermordung von George Floyd zeigt -, in denen "die visuelle Realität dieser Art von Gemetzel der einzige Weg sein kann, um Bürger und Politiker wirklich zu den Maßnahmen zu bewegen, die eindeutig notwendig sind". Auch andere hätten sich inzwischen mit dem Gedanken beschäftigt.
"Andere haben dem widersprochen oder zumindest ethische Vorbehalte geäußert", schreibt Allsop. Bill Grueskin, Professor an der Columbia Journalism School, habe im Gespräch mit Klein erklärt, dass er zwar "im Allgemeinen" hinter der Forderung stehe, Bilder zu zeigen, dass aber nur Angehörige von Opfern und eben nicht die Opfer selbst in der Lage seien, ihre Zustimmung zu geben. "Vielleicht ist es an der Zeit", schlug Grueskin laut Allsops Artikel vor, "auf der Rückseite unserer Führerscheine ein Kästchen anzukreuzen, neben der Zeile für Organspenden, das es erlaubt, die Leiche eines Menschen zu veröffentlichen, um die Schrecken von Amerikas Verliebtheit in Angriffswaffen zu zeigen."
Sewell Chan, der Chefredakteur der Texas Tribune, hat gegenüber Klein geäußert, dass auch er der Idee wohlwollend gegenüberstehe, aber befürchte, dass das Zeigen solcher Bilder als "ausbeuterisch oder unethisch oder unschicklich" erscheinen könnte und das Recht des Menschen auf "Würde, auch oder gerade im Tod" untergraben würde. Die Wissenschaftlerin Susie Linfield und der Reporter Lucas Shaw hätten unterdessen argumentiert, dass das Zeigen solcher Bilder den gegenteiligen Effekt haben könnte, den die Befürworter einer Waffenreform anstreben. "Ich vermute, dass das Zeigen von Bildern dazu führen würde, dass Waffenbesitzer eher geneigt sind, ihre Waffen zu behalten", schrieb Shaw demnach.
"Im Fall von Uvalde ist diese Debatte hypothetisch, zumindest im Moment - Fotografen wurde der Zugang zum Tatort verweigert, und die Behörden haben keine eigenen Bilder veröffentlicht", hält Allsop in seinem Artikel fest. Der Blick fällt dann auf die Massenerschießung an der Sandy Hook Elementary School im Jahr 2012. Lenny Pozner, dessen Sohn Noah dort getötet wurde, habe erzählt, dass er darüber nachdachte, der Welt den Schaden zu zeigen, den ein Sturmgewehr bei seinem Kind angerichtet hat, dann aber zu dem Schluss kam: "Nicht mein Kind." "Alles würde nur verstärkt werden", so habe Pozner die Entscheidung der Familie begründet, keine Bilder von Noah zu veröffentlichen.
Umdenken fand nicht statt
Allsop erinnert in seinem Text an das Jahr 2015 und ein Foto, das die Leiche von Alan Kurdi zeigte, einem jungen syrischen Flüchtling, der tot an einem Strand in der Türkei angespült wurde. Es habe eine Welle von Emotionen und Spenden für Flüchtlings-Hilfsprojekte ausgelöst, aber nicht zu einem längerfristigen Umdenken im europäischen Migrationsdiskurs geführt. "Andere erschreckende Bilder hatten noch weniger Wirkung", sagt Allsop.
Allsop thematisiert auch den rassistischen Lynchmord an dem 14-jährigen Emmett Till im August 1955 in Mississippi. Zahlreiche Befürworter des Zeigens von Fotos von Erschießungsopfern - im Gefolge von Uvalde, aber auch anderer Tragödien - hätten insbesondere auf die Bilder von Tills offenem Sarg verwiesen, da sie einem Massenpublikum die Schrecken des Lynchmords und die anschließende aufrüttelnde Wirkung auf die Bürgerrechtsbewegung eindrucksvoll vor Augen führten. Die anhaltende Wirkung der Fotos - erst kürzlich sei ein nach Till benanntes Gesetz verabschiedet worden, das Lynchmord zu einem Hassverbrechen auf Bundesebene macht - sieht Allsop als Beweis dafür, dass das Zeugnisgeben auch auf (sehr) lange Sicht zu Veränderungen beitragen könne.
"Die Schlüsselfrage ist hier, so scheint mir, für wen wir diese Bilder veröffentlichen würden. Haben wir in unserem derzeitigen politischen Klima wirklich Grund zu der Annahme, dass die mächtigen Verfechter der Waffenreform ihren Widerstand aufgrund eines Bildes oder der Reaktion der Bevölkerung darauf aufgeben würden? Wenn nicht, könnten solche Bilder lediglich dazu dienen, Menschen zu traumatisieren, die bereits an die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen glauben? Was wäre, wenn - anstatt das sich wiederholende, desensibilisierende mediale und politische Drehbuch, das auf Massenerschießungen folgt, entscheidend zu erschüttern - das Zeigen schrecklicher Bilder einfach nur eine weitere Facette davon wird?"
Journalisten haben Worte
Für Allsop ist die Wahrscheinlichkeit, dass solche Bilder zu einer wirklichen Veränderung führen, so ungewiss, "dass hier andere journalistische Grundsätze als die Wirkung ernsthaft in Betracht gezogen werden sollten". Journalisten hätten "immer noch Worte, und es wäre ein Fehler zu glauben, dass wir alle die vielen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, die wir nutzen können, um das Grauen zu illustrieren, ohne Bilder zeigen zu müssen."
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