Erlau.Heute vor 85 Jahren wurde Reiner Kunze im erzgebirglerischen Oelsnitz geboren. Im Wappen der Stadt sieht man einen Bergmann mit seinem Gezähe, sprich Werkzeug, sowie drei Erlen. Der Stadtname soll sorbischen Ursprungs sein und soviel bedeuten wie "Ort am Erlenbach". Wenn Reiner Kunze heute an seinem Wohnort Erlau (!), ein wenig donauabwärts von Passau, auf sein reiches, erfahrungssattes Leben zurückblickt, wird es sich wahrscheinlich auch seiner Vorfahren erinnern. Großvater und Vater waren Bergleute gewesen, bettelarm, bildungsfern, wie man heute sagt.
Bibel als einziges Buch
Das einzige Buch im Haus sei die Bibel gewesen, ein Hochzeitsgeschenk. Und selbst bei ihr war das eingefaltete Lesebändchen noch nie herausgezogen worden.. "Meiner kindheit liehen ihre farben / kohle, gras und himmel / Unter dieser trikolore trat ich an, / ein hungerflüchter, süchtig / nach schönem". Das Schöne musste sich der Bergmannssohn selber machen. Als sehr junger Mann schon entdeckte er die Dichtung. Schrieb berückend schöne Gedichte, über Liebe und Landschaft, vorzugsweise seine erzgebirglerische.
Das gefiel den DDR-Oberen damals sehr. Kunze war genau das, was sie händeringend suchten in ihrem jungen Arbeiter- und Bauernstaat: ein echtes Proletarierkind, das nach Höherem, ja Höchstem, dem Künstlerischen, strebte. Die Eltern hatten schon den Schuhmacher ausgesucht, bei dem der Sohn in die Lehre gehen sollte. Aber die Partei-Nomenklatura wollte es anders: Kunze durfte studieren, bekam sogar eine Assistentenstelle in der Karl-Marx-Universität in Leipzig.
Doch es konnte nicht ausbleiben, dass ihm immer mehr gesellschaftliche Widersprüche auffielen. Er begann an seinem Staat und vor allem dessen alternativlos propagierten Ideologie zu zweifeln. "Die Lehre vom Quadrat als Grundlage aller Fortbewegung" wurde ihm suspekt. Und vor allem: "Sie können der Erfinder des Rades sein, Sie werden gerädert werden." Weil's eben nicht ins quadratische System passt.
"Eine mögliche Gefahr"
Da konnte und wollte er nicht mehr mitmachen. Er, der Verführte, würde sonst selber zum Verführer werden. Oder wie es in dem Gedicht "porträt von sich selbst von vor sechzig jahren" heißt: "Nicht noch einmal / so verführbar / Nicht noch einmal / so gefährdet / Nicht noch einmal / eine mögliche Gefahr". Diese Zeilen sind Inhalt eines Geschenkes, das Reiner Kunze uns, den Lesern, zu seinem 85. Geburtstag macht. Es ist dies der Gedichtband "die stunde mit dir selbst", den dieser Tage der S.-Fischer-Verlag ausgeliefert hat.
Kennt man Kunzes Zeitmaß beim Verfertigen seiner stets äußerst lakonischen und schmalen Lyriksammlungen - die letzte, "lindennacht", liegt zehn Jahre zurück -, beschleicht einen die traurige Ahnung, es könnte der letzte Gedichtband von ihm sein. Zumal sich etliche Verse in diesem Buch lesen wie "letzte Botschaften". Sie lassen sich am ehesten zusammenfassen mit der Verszeile des Dichterkollegen Peter Rühmkorf, auch er, wie Kunze, einer der populärsten und auflagenstärksten Lyriker der letzten Jahrzehnte. Der dichtete einst: "Bleib erschütterbar und widersteh!"
Das könnte auch das Credo von Reiner Kunze sein: erschütterbar bleiben - vor allem von den Schönheiten des der Natur und der Schöpfung -, aber eben auch widerstehen, zuvörderst den lebensfeindlichen Ideologien und Ideologen. Reiner Kunze hat das getan, um den angefangenen Biografiebogen noch schnell fertig zu spannen. Er hat sich mit den Mächtigen der DDR angelegt. Ausgerechnet aus ihm, dem zarten, leisen Dichter "sensibler wege" (ein weiterer Buchtitel) wurde einer der politischsten Autoren der kurzen DDR-Literaturgeschichte. Ja, mehr als das: Er wurde regelrecht zum Fall.
Vor allem sein Kurzprosa-Band "Die wunderbaren Jahre" entlarvte die Lügen des Bauern- und Arbeiterstaates auf so messerscharf sezierende Art, dass den Parteibonzen gar nichts anderes übrig blieb, als ihn zum Staatsfeind auszurufen. Es folgten Publikationsverbot und Drangsalierungen nicht nur seiner Person, sondern auch seiner tschechischen Ehefrau Elisabeth und der Tochter Marcela. Es eskalierte bis zur tatsächlichen Lebensgefahr: Ein Stasi-Vernehmer "prophezeite" Kunze, ihm könne bald ein Autounfall passieren. 1977 verließ die dreiköpfige Familie schließlich die DDR, ein entsprechender Ausreiseantrag war innerhalb weniger Tage genehmigt worden. Man wollte diesen zutiefst integren Kritiker außer Landes haben - seine verbotenen Gedichte zirkulierten noch jahrelang unter den Dissidentenkreisen der DDR. Und manche gingen wegen ihres Besitzes ins Gefängnis. Nach der Ausreise ließ sich die Familie in besagtem Erlau bei Passau nieder. Das kleine Haus "Am Sonnenhang" (übrigens der Titel eines ebenfalls im S.-Fischer-Verlag veröffentlichten Tagesbuches) ist schon vorbereitet darauf, in eine Reiner-und-Elisabeth-Kunze-Stiftung umgewandelt zu werden.
Altersweise und -zornig
Eine Dokumentationsstelle nicht nur für des Dichters eigenes Leben und Schaffen, sondern überhaupt für das Thema "Literatur in Zeiten von Totalitarismus". Reiner Kunze ordnet unverkennbar sein Vermächtnis. Und dazu gehört nun auch noch dieser vielleicht letzte Gedichtband. Er ist altersweise, aber auch alterszornig bis fatalistisch. Zum Beispiel aufgrund der bitteren Erkenntnis: "Die erlösung des planeten von der menschheit / ist der menschheit mitgegeben / in den genen".
Dass das Klima - menschengemacht! - dermaßen außer Rand und Band geraten ist, hat Kunze schon vor Jahren in einem "Menetekel" betitelten Gedicht auf den Punkt eines präzisen dichterischen Bildes gebracht: "Im juli / warfen die bäume die blätter ab / Wir wateten in grünem laub / und traten den sommer mit füßen". Einer solchen Welt endgültig den Rücken zu kehren, dürfte so schwer nicht fallen, möchte man meinen. Und er gewöhne sich auch zunehmend an den Gedanken von Tod und Finsternis, schreibt der Dichter. Um uns dann als allerletztes doch noch zuzurufen: "verneigt vor alten bäumen euch / und grüßt mir alles schöne".
Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.
Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.