Deutschland und die Welt
20.12.2018 - 13:12 Uhr

"Harte Romane" über die menschliche Ausweglosigkeit

Jahrzehntelang ist Georges Simenon eine Art Goldesel für den Züricher Diogenes-Verlag. 220 Einzeltitel erscheinen dort über die Jahre, die Gesamtverkaufszahl liegt bei sechs Millionen Büchern. Dann 2016 der Paukenschlag: John Simenon, Sohn des 1989 verstorbenen Autors, verlängert den Vertrag nicht mehr.

John Simenon, Sohn des 1989 gestorbenen belgischen Bestsellerautors Georges Simenon, im Archiv seines Vaters. Der Kampa-Verlag legt das Gesamtwerk neu auf und bringt jetzt erstmals auf deutsch Vorläufer der Maigret-Krimiserie heraus. Bild: Christiane Oelrich/dpa
John Simenon, Sohn des 1989 gestorbenen belgischen Bestsellerautors Georges Simenon, im Archiv seines Vaters. Der Kampa-Verlag legt das Gesamtwerk neu auf und bringt jetzt erstmals auf deutsch Vorläufer der Maigret-Krimiserie heraus.

Daniel Kampa, ein Mitarbeiter des Diogenes Verlages, der die ganze Zeit schon mit der Herausgabe der Bücher Simenons befasst war, bekam sämtliche Rechte. So etwas tut man wohl nur, wenn man Entscheidendes vorhat. Und dies geschieht nun auch. Im eigens gegründeten Kampa-Verlag erscheint eine Georges-Simenon-Werkausgabe, die deutlich machen wird, was für ein literarischer Gigant hier zu entdecken ist. Einer, der nebenbei auch noch den Kommissar Maigret erfunden hat, wie es in Zukunft heißen wird, und ihn in 75 Einzelbänden Kriminalfälle hat lösen lassen.

Daneben aber gibt es ein gewaltiges Archipel, das nun langsam gemäß dem Editionsplan der nächsten Jahre auftauchen wird. Neben Reisereportagen und autobiografischen Schriften hat Simenon rund 120 weitere Romane geschrieben, die keine Kriminalgeschichten sind, sondern Fallstudien des Menschlichen, von einer solchen Wucht und Härte, das man sie neben die Spitzenwerke des Existenzialismus stellen muss, also an die Seite eines Albert Camus oder Samuel Beckett.

Ganz entscheidend zu dieser Wucht trägt Simenons Sprache bei. Sie ist so schnörkellos und präzise wie die unerbittlich ihr Ziel findende Gerade eines Boxers. Simenon schrieb seine stets auffallend schmalen Bücher in kürzester Zeit - 10 Tage für einen Roman! -, anschließend trat er aus seinem Arbeitszimmer, packte den Papierblätterstoß am Rücken und wedelte ihn vor seiner Frau Denise ein paar Mal hin und her. Es sollten auch noch die letzten unnötigen Adjektive herausfallen. Eine herrliche Anekdote, die aber genau seine Arbeitsweise und seinen Stil beschreibt.

Zahllose Verfilmungen

"Zupackend" ist da noch ein gelinder Ausdruck. Man kann diese Bücher einfach nicht mehr aus der Hand legen. Ihre präzise gesetzten Dialoge und auf intensive Sinneseindrücke konzentrierten Schilderungen führen unweigerlich dazu, dass die Bilder im Kopf des Lesers laufen lernen. Nicht umsonst sind zahllose Simenon-Bücher verfilmt worden. So auch der Roman "Die Witwe Couderc". Meisterlich allein schon der Einstieg. Wir sehen einen jungen Mann eine einsame Landstraße entlanggehen, irgendwo in der "toten Mitte Frankreichs", in der Provinz Bourbonnais, es gibt dort einen Treidel-Kanal, der die Städte Montluçon und Saint-Amand verbindet.

In den Realien, gerade auch den topografischen, ist Simenon immer äußerst genau. Der Einstieg ist so lapidar wie nur möglich. "Er ging. Er war allein, und vor ihm erstreckten sich mindestens drei Kilometer Landstraße." Dann kommt ein Bus und nimmt den Mann mit. Im Fahrzeug sitzt die ungefähr 20 Jahre ältere Bäuerin und Witwe Couderc, die sofort von der Gestalt des jungen Mannes elektrisiert ist. Blicke werden getauscht, und der Leser ahnt: Hier fädelt sich gerade ein katastrophales Verhängnis ein.

Natürlich steigt der Mann mit der Frau aus. Natürlich nimmt sie ihn mit in ihr einsames Gehöft. Sie hält ihn für einen Jugoslawen, einen Wanderarbeiter. Und sie kann einen Knecht gut gebrauchen. Nach und nach offenbart sich ihr die Geschichte Jeans, so nämlich heißt er. Er ist der Sohn eines vermögenden Likörfabrikanten aus der Nähe, und er ist ein Mörder, der soeben aus dem Zuchthaus entlassen wurde. Jean wiederum lernt die äußerst konfliktträchtigen Familienverhältnisse der Couderc kennen, wo Missgunst, Neid und Habsucht herrschen.

Vollkommen nackt

Die Schwägerin und ihre rothaarigen Tochter Félicie gönnen der Couderc den jungen Mann am Hof nicht. Auch wenn die beiden, Couderc und Jean, sich mehr und mehr gegenseitig die entscheidende Lebensstütze werden, die anderen wissen es zu hintertreiben und zu zerstören. Natürlich spielen dabei Sex und Gier eine entscheidende Rolle. Am Ende jedenfalls stehen ein neuerlicher Mord und die Unentrinnbarkeit des Menschen aus seinem Fatum.

Simenon zeigt den Menschen immer vollkommen nackt, in all seiner Triebhaftigkeit, Schlechtigkeit, Ausweglosigkeit. So auch in dem Ehebrecher-Roman "Das blaue Zimmer", der zudem ungeheuer raffiniert gebaut und erzählt ist. Zwei Verheiratete treffen sich immer donnerstags in einem Hotel. Schon nach zehn Zeilen schreibt Simenon schonungslos klar, aber auch vibrierend gefährlich, warum. "Nicht nur stimmte alles, es war auch alles wirklich: er, das Zimmer, Andrée, die auf dem zerwühlten Bett lag, nackt, mit gespreizten Beinen und dem dunklen Fleck ihres Geschlechts, aus dem ein Rinnsal Sperma sickerte. War er glücklich? Hätte man ihn gefragt, er hätte ohne zu zögern Ja gesagt."

Schauernder Blick

Spätestens an dieser Stelle ahnt der Leser neuerlich: Natürlich ist er nicht glücklich, und natürlich wird alles in einem grauenvollen Unglück enden. Wenige Seiten später, ohne jegliche Vorwarnung, quasi von einem Absatz zum nächsten, sitzt der Mann in Handschellen vor einem Untersuchungsrichter. Erst weiß man als Leser überhaupt nicht, was jetzt passiert sein soll. Aber man erfährt es, in einer gnadenlos sich abspulenden Handlung, die bis zum Zerreißen gespannt bleibt. Wirklich ein Meister, dieser George Simenon!

Und das ideale Weihnachtsgeschenk für alle, denen das Fest der gespielten intakten Familien und trauten Heime auch dieses Jahr wieder große Pein bereiten wird. Dann sollte man sich mit einem Simenon unter den Tannenbaum verkriechen und einen schaudernden Blick in die Abgründe allen menschlichen Treibens werfen. "Roman dur", also "harte Romane", so nannte der Autor selbst solche Bücher wie die zwei eben besprochenen.

Wem das zu viel ist, der kann ja Ausflucht nehmen beispielsweise zu einem der rührendsten Bände aus der Reihe um den Kommissar Maigret, er heißt "Weihnachten bei den Maigrets". Auch er ist bereits erschienen als Bestandteil dieser großartigen Werkausgabe. Sie macht nun einen Autor sichtbar, von dem André Gide, ein weiterer Titan der französischen Literatur, sagte, er sei der größte, der einzige wahre Romancier unserer Zeit. Gide war eben schon immer möglich, was uns allen jetzt offensteht: Den ganzen Georges Simenon zu lesen und zu begreifen.

Die Bücher:

Georges Simenon: „Die Witwe Couderc“ (208 Seiten, 19,90 Euro); „Das blaue Zimmer“ (176 Seiten, 19,90 Euro); „Weihnachten bei den Maigrets“ (120 Seiten, 14,90 Euro). Allesamt Bände der Georges-Simenon-Werkausgabe im Züricher Kampa-Verlag, teilweise neu übersetzt; jedes Buch mit einem Nachwort u.a. von Daniel Kehlmann, John Banville und Karl-Heinz Ott.

Der belgische Schriftsteller Georges Simenon ist ein Autor der Superlative. Der Erfolg des Maigret-Erfinders gab schon seinen Zeitgenossen Rätsel auf. Auch 25 Jahre nach seinem Tod fasziniert der „Fall Simenon“. Bild: Belga/dpa
Der belgische Schriftsteller Georges Simenon ist ein Autor der Superlative. Der Erfolg des Maigret-Erfinders gab schon seinen Zeitgenossen Rätsel auf. Auch 25 Jahre nach seinem Tod fasziniert der „Fall Simenon“.
Im Archiv des Bestsellerautors steht das erste Buch aus der Maigret-Krimireihe, 1930 geschrieben und später als „Maigret und Petr der Lette“ auf deutsch veröffentlicht. Bild: Christiane Oelrich/dpa
Im Archiv des Bestsellerautors steht das erste Buch aus der Maigret-Krimireihe, 1930 geschrieben und später als „Maigret und Petr der Lette“ auf deutsch veröffentlicht.
Kommissar Maigret kommt wieder in die Buchläden, und nicht nur das: der Kampa-Verlag plant die erste deutschsprachige Gesamtausgabe des Werks von Georges Simenon. Dessen Sohn besitzt so einige Schätze. Bild: Christiane Oelrich/dpa
Kommissar Maigret kommt wieder in die Buchläden, und nicht nur das: der Kampa-Verlag plant die erste deutschsprachige Gesamtausgabe des Werks von Georges Simenon. Dessen Sohn besitzt so einige Schätze.
 
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