"Um eines vorwegzunehmen, nein, ich bin kein Mitglied eines Schützenvereines", schreibt Christian L. in seiner Mail an mich. Daher, so denke er, könne er die Angelegenheit "von einem einigermaßen neutralen Standpunkt" aus betrachten. Und dabei falle ihm auf: Wann immer ein Mensch durch eine Schusswaffe ums Leben kommt - also zumindest außerhalb von Kriegshandlungen -, blicke die Gesellschaft reflexartig auf die Sportschützen. "Vielleicht wird der Blick aber auch gelenkt, beispielsweise durch die Medien", meint der Leser.
"Nichts zu suchen"
"Dass dieser Reflex in den sogenannten Boulevardmedien quasi dazugehört", fährt Christian L. fort, "ist noch einigermaßen verständlich. In einem Artikel in einer seriösen Zeitung, noch dazu übernommen von der seriösen Deutschen Presse-Agentur, hat eine derart undifferenzierte Darstellung beziehungsweise wie in dem Artikel ,Die beiden Leben des Stephan E.' implizierte Verbindung von Mördern, Rechtsradikalen und Sportschützen nichts zu suchen."
Nun werde es vermutlich heißen, in dem Beitrag sei doch klargestellt worden, dass der mutmaßliche Todesschütze von Kassel ja gar keine legale Schusswaffe besaß, dass er vielmehr Bogenschütze war. "Aber das ist genau der Punkt. Warum wird darauf überhaupt eingegangen? Die Mitgliedschaft im Schützenverein hat nichts mit dem Tatgeschehen zu tun. Warum wird als Bild über dem Artikel das Foto von dem Schützenheim gezeigt, in dem der Tatverdächtige Mitglied ist? Was soll das aussagen?", so Christian L. weiter.
"Ist das seriös?"
Oberflächlich betrachtet möge seine Reaktion auf den Artikel etwas übertrieben erscheinen, "da man ja die Person charakterisieren möchte, die das getan hat". Aber einzelne Aussagen in dem Artikel dienten dazu, dem Text eine gewisse Richtung zu verleihen. L. nennt dieses Beispiel: "Im Verein schoss E. nur Bogen, meist abseits." Meist abseits, was solle das heißen, was wolle die Zeitung damit sagen? Christian L. stellt hier folgende Überlegungen an: "War er der ,Lonely Wolf'? Man konnte ja nicht damit rechnen, dass er mal so was macht, aber, andererseits, er hielt sich ja immer abseits ..." Die Frage, die Christian L. am Ende bewegt: "Ist das seriös, oder ist das Boulevardjournalismus?" Boulevard, antwortete ich dem Leser, ist eine "Bezeichnung für einen Zeitungstyp, der in Aufmachung, Textteil und Gestaltung durch einen plakativen Stil, große Balkenüberschriften mit reißerischen Schlagzeilen, zahlreiche, oft großformatige Fotos sowie eine einfache, stark komprimierte Sprache gekennzeichnet ist" (Dr. Johannes Raabe, Kommunikations- und Medienforscher). "Amberger Zeitung", "Sulzbach-Rosenberger Zeitung" und "Der neue Tag" entsprechen nicht dieser Definition. Sie stehen für seriösen Journalismus. Wobei Boulevardjournalismus nicht per se unseriös ist. Sein Hauptaugenmerk liegt darauf, den Leser emotional anzusprechen.
Weiter erläuterte ich: Nachdem der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, öffentlich erklärt hatte, der Verdächtige im Mordfall sei Mitglied in einem Schützenverein, habe aber keine waffenrechtliche Erlaubnis gehabt, ist es geradezu Pflichtaufgabe eines Journalisten, hier anzusetzen und Recherchen dazu anzustellen.
Es darf immer Teil einer Berichterstattung in einem Kriminalfall sein, Einblicke in das Leben und Umfeld eines mutmaßlichen Täters zu gewinnen. Erst recht, wenn ein Verdächtiger verschiedene Gesichter zu haben scheint. Der dpa-Kollege Göran Gehlen, der den Beitrag "Die beiden Leben des Stephan E." verfasst hat, ist dabei journalistisch völlig korrekt vorgegangen. Er hat die Münch-Aussage aufgegriffen, die Vorsitzenden des Schützenclubs 1952 Sandershausen befragt und sie ausführlich zu Wort kommen lassen. Hier nachzuhaken, hat nichts mit einem reflexartigen Blick auf Sportschützen im Zusammenhang mit einem Tötungsdelikt zu tun. Es hätte ja auch ein Fußballverein oder Tennisclub sein können.
Wenn in dem Artikel angemerkt wird, dass Stephan E. in dem Verein nur mit dem Bogen schoss und das "meist abseits" getan habe, so ist das eine reine Feststellung, nicht mehr und nicht weniger. Es ist lediglich der Versuch einer Beschreibung seines Verhaltens auf dem Clubgelände. Das darzustellen, ist legitim und erfolgt ohne Hintergedanken.
Als Teil der Vita wichtig
Der dpa-Korrespondentenbericht ist, das möchte ich hier hervorheben, nicht reißerisch und mit der gebotenen Nüchternheit geschrieben. Ja, die Mitgliedschaft im Schützenverein hat nichts mit dem eigentlichen Tatgeschehen zu tun, ist aber ein nicht unbedeutender Teil der Vita des Tatverdächtigen und deshalb erwähnenswert. Ich sehe auch keinen Grund dafür, das Bild von dem Schützenheim nicht zu zeigen. Wie bereits erwähnt, hat sich der Autor ausführlich mit den Vereinsvorsitzenden unterhalten, das Foto zeigt das Grundstück und das Gebäude, in dem der Verdächtige einen Teil seiner Freizeit verbracht hat. Also steht das Vereinsheim zumindest in einem Zusammenhang mit Stephan E.
Überall ein Thema
Abschließend noch ein kurzer Blick in die Medienlandschaft: Auch die "Süddeutsche Zeitung", der "Spiegel", der NDR oder der WDR, um nur einige zu nennen, hatten mit den Vorsitzenden des Schützenvereins gesprochen und darüber berichtet.
Auf "SZ.de" hieß es außerdem: "Schon seit Jahren gibt es in Deutschland eine politische Diskussion darüber, ob die Besitzer von legalen Schusswaffen, also zum Beispiel Sportschützen und Jäger, stärker vom Verfassungsschutz überprüft werden sollten. Zuletzt haben vor allem SPD-Innenpolitiker darauf gedrungen, dass Sportschützen routinemäßig daraufhin überprüft werden sollten, ob sie in extremistischen Zusammenhängen auffällig geworden sind. Schützenverbände und Unionsinnenminister stellten sich dem jedoch entgegen."
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