Kabarettist zu sein ist in den Augen von Tilman Birr nicht einfach. Voraussetzung für den Beruf ist ein abgebrochenes Lehramtsstudium. Dann sollte man beim Kabarett nicht nur Witze auf Kosten Prominenter oder Politiker machen, sondern auf der Bühne etwas über sich selbst erzählen, etwas von seinen Gefühlen preisgeben. Das tut der Wahl-Berliner dann auch auf der Kleinkunstbühne im Schmidt-Haus – höchst humorvoll mit frischer direkter Sprache und unverbrauchter Bühnenpräsenz.
Intoleranz und Vorurteile, gepaart mit übersteigerten Empfindlichkeiten gegenüber anderen Meinungen und Verhaltensweisen, sowie die Unfähigkeit, sich selbst zu hinterfragen, ist für Birr zwar nicht das Krebsgeschwür der Gesellschaft, aber gewiss deren schaler Mundgeruch. Was kann man wohl eher tolerieren: die Ballerspiele eines 15-Jährigen am Computer oder das Verhalten eines 60-jährigen Wutbürgers, den man mit 1,5 Tonnen Stahl unterm Hintern im Straßenverkehr auf die Menschheit loslässt? Birr wirbt für mehr Gelassenheit, und das in Zeiten, in denen alle sauer zu sein scheinen und eine gewisse Miesepeter-Mentalität an den Tag legen.
Typischer deutscher Mann
Der Kabarettist hat Angst, zum Wolfgang zu werden, auch wenn er nicht so heißt, aber sich wie einer benimmt. Wolfgang ist für ihn der typische deutsche Mann über 50 mit abbezahltem Haus, erworbenen Rentenansprüchen und dem Gefühl "Das war's jetzt". Der Mann Ende 30 habe Angst davor, zum Beispiel beim Hinsetzen ächzende Geräusche wie die alter Leute auszulösen.
Wie viele Wolfgangs mögen wohl im Publikum gesessen und sich bei seinen witzigen Geschichten mit großem Realitätspotenzial ertappt gefühlt haben? Birr blickt tief in die deutsche Seele und bringt seine Zuhörer dazu, sich selbst zu hinterfragen, über den Tellerrand zu schauen und die eigene Komfortzone zu verlassen. Ihm gelingt es, den Anwesenden gekonnt den Spiegel vorzuhalten, ohne den Zorn des Ertappten zu wecken. Vielmehr lacht das Publikum über sich selbst und erkennt an, dass der Protagonist auf der Bühne mal wieder voll ins Schwarze getroffen hat.
So zum Beispiel bei der Feststellung, man habe sich eine Gesellschaft herangezogen, in der oft leider der recht habe, der am lautesten schreie. "Menschen, die jünger sind als man selbst, werden gerne belächelt und als ahnungslos abgestempelt." Sie müssten in einer Zeit leben, die eigentlich nur eine Fälschung des Originals sei ("... früher war alles besser"), der Zeit zwischen 15 und 30. Selbstverständlich hat man sich damals als moderner Mensch nicht mehr mit überholter Technik wie dem Grammophon beschäftigt, echauffiert sich jedoch im gleichen Atemzug darüber, dass sich die heutige Jugend nicht mit für sie überholter Technik wie der Audiokassette auskennt. "Natürlich kennen die das nicht!", schimpft Birr. "Als die auf die Welt kamen, gab's das Zeug schon nicht mehr. Oder will man einem 15-Jährigen beibringen, wie man mit einem Wählscheibentelefon eine Whatsapp-Nachricht verschickt?"
Glücksfall für das Kabarett
Tilman Birrs Texte haben Substanz, vereinen Witz mit Scharfsinn, sind aktuell und am Puls der Zeit. Für das Kabarett ist es ein Glücksfall, dass der Autor den Weg von der Lese- und Poetry-Slam- auf die Kabarett- und Liedermacherbühne gefunden hat. Sein Programm ist außergewöhnlich vielseitig. Er streut immer wieder pointierte Lieder wie das vom Nachtisch von Wolfgang und Gisela ein. Birr glänzt als mitreißender Erzähler intelligenter und witziger Geschichten. Mit all seinen vier Programmen war der Kabarettist im Schmidt-Haus. Seine abschließende Feststellung "... alles andere später" macht Appetit auf seinen nächsten Auftritt.
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