Die Jubelstimmung bei der oppositionellen Bewegung ANO nach den Europawahlen in Tschechien nimmt kein Ende. ANO-Chef und Ex-Premier Andrej Babiš konnte sich auch Tage nach der Bekanntgabe des Ergebnisses kaum bremsen. Er sei noch immer „schockiert“ von dem „famosen“ Abschneiden von ANO, zitierte ihn am Dienstag die Tageszeitung "Právo". Der ANO-„Schattenpremierminister“ Karel Havliček kündigte an, dass die ANO-Abgeordneten keine Sekunde zögern würden, um in Brüssel beziehungsweise Straßburg alles zu tun, „um den Green Deal und den Migrationspakt zu Fall zu bringen“. Das hatte ANO auch im Wahlkampf versprochen und dabei so getan, als ob es für sie ein Kinderspiel sei, grundlegende Beschlüsse der EU völlig neu zu verhandeln.
Die frühere tschechische Botschafterin bei der EU, Milena Vicenová, nannte derartige Versprechen „wirklich irreal“. Doch ANO agiert wie im Rausch. Dabei hat die Anti-Systembewegung ANO selbst gar keine Bäume ausgerissen. Im Vergleich zu den letzten Europawahlen hat sie gerade mal ein Mandat hinzugewonnen, stellt damit jetzt sieben der 21 tschechischen Abgeordneten im neuen Europaparlament. Babiš und seine Parteifreunde haben aber ein neues Wählerreservoir für sich entdeckt. Es handelt sich dabei um die Wähler eines neuen Anti-System-Konstrukts, ein rechtsnationales Bündnis aus Přísaha (Der Eid) und der Autofahrerpartei Motoristé sobě. Dieses seltsame Bündnis, geführt von einem ehemaligen Polizisten aus dem Bereich Korruptionsbekämpfung und einem früheren Rennfahrer mit kaum versteckten Neigungen zum Rechtsextremismus, hat nach ANO und der Regierungskoalition Spolu in der Abrechnung einen völlig überraschenden 3. Platz belegt. 10,3 Prozent der Wähler entschieden sich für das etwas vereinfacht als Autofahrerpartei zu bezeichnende Bündnis. Ziel: das Verbot der Neuzulassung von Verbrennerautos ab 2035 in der EU zu kippen.
Das ist ein Anliegen mehr oder weniger aller tschechischer Parteien. Die fürchten um die Zukunft der tschechischen Autoindustrie, die für das Land so wichtig ist wie die deutsche Autoindustrie für die Bundesrepublik. ANO wird sich jetzt mit Sicherheit des Themas ganz verstärkt annehmen, um das neue Autofahrerbündnis überflüssig zu machen und dessen Wähler einzukassieren.
Durchaus interessant dürfte für den weiteren Wachstumspfad von ANO auch ein linkes Bündnis unter Führung einer Kommunistin sein, das zwei Abgeordnete für Europa stellt. ANO versteht sich – wie die Kommunisten – als Anwältin der „kleinen Leute“. Und die Babiš-Truppe hat in ihrer einstigen Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten Erfahrung darin gesammelt, die gemäßigten Linken zu pulverisieren. Sozialdemokratische Wähler machen seither ihr Kreuzchen bei ANO. Weshalb also – so die Überlegung – sollte das nicht auch mit den Wählern der Kommunisten gelingen.
Perfekt liefe es für Babiš, wenn die Einverleibung der anderen Anti-System-Parteien möglichst schnell gelingen würde. Im Oktober kommenden Jahres wird in Tschechien ein neues Parlament gewählt. Es ist das erklärte Ziel von ANO, die unbequemen Stühle der Opposition zu verlassen und neuerlich die Macht im Land zu übernehmen.
Und die Prager Regierungsparteien? Das Bündnis Spolu aus Demokratischer Bürgerpartei ODS, den Christdemokraten und der konservativen TOP 09 schickt sechs Abgeordnete nach Europa, liegt also nur knapp hinter ANO. Doch die beiden ebenfalls zur Regierungskoalition gehörenden Parteien der Bürgermeister und der Piraten blieben hinter ihren Erwartungen zurück. Bei den Bürgermeistern erwies sich die einstige Präsidentschaftskandidaten Danuše Nerudová nicht als das erhoffte große Zugpferd, dürfte sogar ihre Chancen als mögliche tschechische EU-Kommissarin verspielt haben. Katastrophal schlecht schnitten die Piraten ab, die im Land als die überzeugteste Europapartei gelten. Was auch etwas über die generell skeptische Haltung der Tschechen zur EU aussagt.
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