Der 77-jährige österreichische Autor Gerhard Roth denkt und schreibt nicht in Einzelromanen, sondern in Zyklen, die ans Monumentale und Monströse grenzen. An seiner "Doppelhelix", wie er das nannte, arbeitete er über 30 Jahre, heraus kamen zwei Romanzyklen, "Archive des Schweigens" und "Orkus", zusammen 15 Bücher mit 6000 Seiten, eine Tiefenlotung mitten hinein in die Schwärze der österreichischen Seele.
Damals, zum Abschluss dieser gewaltigen Schreibarbeit, sagte er im Interview mit der Kulturredaktion, er sei froh, das hinter sich zu haben und etwas Neues anfangen zu können. Als Außenstehender dachte man: Vielleicht kommt jetzt mal was Kleines, Miniaturen, eine Erzählung. Doch weit gefehlt! Gerhard Roth hat eine Venedig-Trilogie geschrieben. Teil eins, "Die Irrfahrten des Michael Aldrian" erschien vor zwei Jahren, Teil zwei, "Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier" dieser Tage und Teil drei soll bereits fertig geschrieben sein.
Liebe und Tod
"In Venedig sieht man bis in das kleinste Detail und auf engstem Raum, was der Mensch ist und wozu er fähig sein kann", erklärt Gerhard Roth die Faszination dieser Stadt. Ihre Schönheit, ihre Morbidität - Venedig ist zum Untergang verurteilt! -, ihre Kunstschätze, ihre Verliese und Folterkammern, das Verbrechen in dieser Stadt, die Liebe und der Tod, das alles gibt dem Romancier dermaßen viel Stoff, dass er spielend drei dicke Romane damit füllen kann.
Auch scheint Gerhard Roth so ziemlich alles gelesen zu haben, was zu Venedig je geschrieben wurde. Vieles findet Eingang in seinen Roman, in subtilen Anspielungen und versteckten Zitaten. Manches wird aber auch ganz offen ausgestellt, zum Beispiel dass Roth offenbar Riccardo Calimani persönlich kennt, die Koryphäe zum Thema "Jüdische Geschichte Venedigs" (das allererste europäische Juden-Ghetto soll hier gestanden haben). Jedenfalls lässt er seine Hauptfigur Calimari in dessen Privatwohnung besuchen und ein längeres Gespräch führen. Man versteht zwar nicht, was das zur Romanhandlung beitragen soll. Aber genauso ist eben Gerhard Roths Literatur: ein gigantisches Archiv. Was archiviert werden soll und was nicht, darf keine Frage sein. Ein Archivar vom Schlage Roths bewahrt selbstverständlich alles auf. Auch eine wahrscheinlich wirklich stattgefundene Begegnung mit Calimari.
Was aber ist nun die Handlung dieses Romans? Wie so oft bei Roth steht im Mittelpunkt ein Mann mittleren Alters, der in einer schweren Lebenskrise steckt. In diesem Fall ist es der literarische Übersetzer Emil Lanz, der sich in jener Stadt niederlassen hat, von der es in Thomas Manns berühmter Erzählung heißt: "Tod in Venedig". Den sucht auch Lanz, genauer gesagt den Freitod, den Suizid.
Er will sich umbringen. Hinter ihm liegt der tödliche Absturz seiner Ehefrau mit einem Flugzeug, bei der Gelegenheit erfuhr er auch, dass sie mit einem heimlichen Liebhaber unterwegs war. Jedenfalls: Lanz sucht nun ebenfalls den Tod. Es soll auf der kleinen Insel Torcello passieren, dort will er sich, nachdem er sich ziemlich betrunken hat, erschießen. Stattdessen wird er aber Zeuge eines kaltblütigen Bandenmordes. Zwei rivalisierende Gangs, die Geschäfte mit dem Schleusen von Flüchtlingen machen, begleichen ihre Rechnungen auf die bekannte italienische Mafia-Art. Und Lanz als Augenzeuge wird in der Folge immer tiefer in die Ereignisse verstrickt.
Wahn und Schizophrenie
Wenn es so einfach wäre! Gerhard Roth, der sich intensiv mit Wahn und Schizophrenie, aber auch mit den künstlerischen Hervorbringungen sogenannt Geistesgestörter beschäftigt hat, zieht immer doppelte Böden ein. Man weiß als Leser nie, ob alles nicht nur ein einziger Suff-Traum der Hauptfigur ist. Oder ob sein Selbstmord gar "geglückt" ist und er sich bereits im Jenseits aufhält. "Sie dürfen nicht glauben, dass alles, was Sie sehen und erfahren, schon die Wirklichkeit ist", erklärt ihm ein Mann, der ausgerechnet Vogel heißt und Falkner ist.
Zweimal rettet er Lanz das Leben, denn der wird unter anderem verfolgt von einem Bodyguard des Mafiabosses, der sich hinter einer Hundemaske tarnt. Angestellt ist der Falkner bei einem mindestens genauso mysteriösen "Signor Blanc", einem ungeheuer reichen Sammler, der Besitzungen rund um die ganze Welt hat.
Höchst unerklärlich
Zu Gesicht bekommt Lanz diesen "Signor Blanc" nie. Dennoch scheint es so, als ob der schützend seine Hand über den Übersetzer hält. Er stellt ihm nicht nur ein Arbeitszimmer in seiner Villa zur Verfügung, samt Koch und Diener, er verschafft ihm auch den Auftrag eines Verlegers, der ihm mindestens ein Jahrzehnt lang ein sicheres Auskommen garantiert: Lanz soll den kompletten Shakespeare ins Italienische übersetzen.
Das alles kommt nicht nur dem Leser, sondern auch Lanz höchst unerklärlich, aber auch paradiesisch vor. Hat sein Selbstmordversuch also doch geklappt und er ist im Himmel Venedigs bei einem gütigen Gott gelandet, eben bei "Signor Blanc"? Man kann sich nicht sicher sein ... und das soll man ja auch nicht. Denn das ist die alles grundierende Botschaft dieses nicht leicht fassbaren Buches: "Der weit verbreitetste Fehler der Menschen ist es, zu glauben, es gebe eine widerspruchsfreie Erfahrung oder Wahrnehmung." Alles kann immer auch ganz anders sein.
___Gerhard Roth: "Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier". 386 Seiten, 25 Euro, Verlag S. Fischer Verlag
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