Auch kommerzielle Kalkulationen prägen Programme, in Hinblick auf wohlwollende Abonnenten und wohlgefüllte Säle spannt man gern wohlbewährte Zugpferde sinfonischer Literatur vor den Karren. Dem schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt gebührt das Verdienst, den Blick gen Norden auf die hierzulande etwas stiefmütterlich behandelte skandinavische Sinfonik zu lenken. Als Folge ging man am Samstag ergriffen, begeistert und um viele Erkenntnisse bereichert aus der Max-Reger-Halle.
Tiefe Tragik
Die Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63 von Jean Sibelius mag einem spanisch statt finnisch vorkommen: Sie ist schier eine „Anti-Sinfonie“ ohne süffige Klänge à la Strauss, ohne berauschenden Weihrauch à la Wagner, ohne Pomp, Puder und Parfum, ohne Schluss-Apotheose (durch Dunkel zum Licht), ohne traditionelle Schmuse-Harmonien, alle vier Sätze enden leise oder gar abrupt. Der Tritonus (drei Ganzton-Schritte) zieht sich als roter Faden durch das Opus, wir hören zukunftsweisende bitonale Schichtungen, verstörende Dissonanzen. Der Einfluss von Krankheitserfahrung und Todesahnung liegt nahe. Die BR-Musiker spielen das Werk geradezu kammermusikalisch, mit ernster Geradlinigkeit und Ehrlichkeit, mit erschütternder Tragik ohne weinerliche Wehleidigkeit, sie entschärfen die schroffen Abgründe nie.
Primus inter Pares
Blomstedt dirigiert mit seinen 92 Lebensjahren vital, auswendig und ohne Stab; ihm gebührt höchste Achtung, diese bedeutende Musik in engster Notentext-Tuchfühlung, natürlich, geerdet und frei jeder karajanisch-eitlen Selbstdarstellung über die Rampe zu bringen. Auch sticht sein Trumpf eines gebildeten, ethisch über herrische Manieren erhabenen, kollegialen Umgangs mit den Musikern.
Die Akustik der Max-Reger-Halle wird bei solch voller Besetzung schon recht trocken und analytisch; für ein lediglich gutes Orchester könnte dies ein unfrohes Erwachen bedeuten, für eines der weltbesten hingegen die Chance, seine überragenden Qualitäten mit lockerer Hand unter die Lupe zu legen. Der Rang der einzelnen Musiker (Pars pro Toto: bei Sibelius das nobel und ohne Überdruck gestrichene Solocello, die fulminant funkelnde Klarinette) fügt sich zu einem einverständlich agierenden Organismus mit seismografisch sensiblen Reaktionen. Wir dürfen einen Orchesterklang höchster Präzision, Transparenz und Trennschärfe erleben, der bei Sibelius den Atem raubt, bei Stenhammars blühendem Intermezzo aus „Sången“ op. 44 das Herz wärmt, bei Mendelssohns „Schottischer“ Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56 zu Standing Ovations auftreibt.
Gipfel-Wanderung
Großartig: Versöhnlicher Streicherschmelz und sattes Bruckner-Blech erleben wir bei Wilhelm Stenhammar. Mendelssohns „Schottische“ geleitet Blomstedt in die Walhalla der großen Sinfonik. Wie in der Partitur vorgeschlagen fügt er die Sätze nahtlos aneinander. Die Coda wird überhöhendes Ziel des 1. Satzes. Ein Funken schlagendes Feuerwerk an Präzision zündet er im Vivace. Überirdisch innig und kultiviert singen die Violinen im Adagio. Impulsive Hochspannung liegt im letzten Satz an. Ein bewundernswertes Pianissimo bereitet das triumphale Finale vor: „God save the Queen and all the people of Scotland“. God save Blomstedt!
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