Locker steigt Prof. Dr. Maren Conrad in ihren so bedeutungsschwer klingenden Vortrag "Wertevermittlung in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur im Wandel der Zeit" ein. Sie zitiert Goethe (1759 bis 1832) und verweist auf ein Monumentalkunstwerk der Documenta 14 vor zwei Jahren, den "Parthenon der verbotenen Bücher" von Marta Minujín. Dort hingen zum Erstaunen vieler unter anderem auch "Harry Potter" von Joanne K. Rowling oder "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry (1900 bis 1944).
Goethe hatte wenig zu sagen auf die Frage, welche Erfahrungen mit Büchern er als Kind gemacht habe. Er verwies auf das Werk "Orbis sensualium pictus" (Die sichtbare Welt), als erste zweisprachige lateinisch-deutsche Ausgabe erschienen 1658 in Nürnberg, geschrieben von dem Theologen Johann Amos Comenius (1592 bis 1670). Mehr gab es damals schlichtweg nicht. Conrad, die im Rahmen der 40. Erlanger Universitätstage in Amberg, die sich das Thema "Werte" gegeben haben, spricht, markiert mit diesem Werk einen Wendepunkt.
Delegiertes dozieren
Es sei der erste Hinweis darauf, dass die bis dahin ausschließlich übliche Kommunikationsform des Lehren und Lernens erstmals vom direkten Gespräch zwischen Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern auf das Medium Buch delegiert werde. Das habe natürlich mit der technikgeschichtlichen Entwicklung des Buchdrucks zu tun. Conrad definiert "Orbis sensualium pictus" als maßgebliche Grundkonstellation von Büchern für Kinder und Jugendliche als Haltung des Erklärens von Welt.
Die Entstehung von Kinder- und Jugendliteratur schreibt sie den Gebrüdern Grimm (1785 bis 1859) und deren weltberühmter Sammlung von Kinder- und Hausmärchen zu, die die beiden Begründer der Germanistik von 1812 bis 1858 herausgaben. Die Erstausgabe sei allerdings auf Ablehnung gestoßen, weil Eltern die Märchensammlung allzu brutal und grausam und damit aus deren Sicht nichts für Kinder gewesen sei. Conrad spricht von Schreck-Märchen mit Mord-, Totschlag, viel physischer und psychischer Gewalt.
Messlatte Wirklichkeit
Abstrahiert müsse jedoch konstatiert werden, dass die Märchen fantastische bis an Fabeln angelehnte Geschichten über gesellschaftliche Phänomene und Realitäten wiedergeben würden: Es gehe um Armut und Reichtum, Macht und Ohnmacht, Gut und Böse, Wirklichkeit und Utopie. Alle diese Gegensätze seien Alltag, woraus die Referentin schließt, dass Normalität das entscheidende zentrale Thema von Kinder- und Jugendliteratur ausmacht. Nicht als Wert per se, aber als normative Werteskala, an der sich ablesen lässt, was in Richtung Gut und Böse oder Richtig und Falsch geht.
Die Literaturwissenschaftlerin bedient sich zur Untermauerung dieser These sogar bei den Naturwissenschaften. Sie legt als Messlatte die Gauß'sche Normalverteilung an und wird bei Pippi Langstrumpf (1945), Emil und die Detektive (1929), Märchenklassikern (ab 19. Jahrhundert), Der Struwwelpeter (1844) oder Max und Moritz (1865) gleichermaßen fündig. Alles dreht sich darum, was zur jeweiligen Zeit als normal erachtet wird, und wie sich Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Und das Schöne daran laut Conrad: Unter dem Strich geht es immer gut aus.













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