Amberg
26.08.2019 - 11:38 Uhr

Wenn der Schmerz nicht mehr weggeht

Diese Zahl dürfte der Erfahrung der meisten Erwachsenen entsprechen: Schmerzen treten in über 60 Prozent der Fälle als Rückenschmerzen auf. Man kann sie durch Behandlung lindern, aber es ist schwer, sie ganz loszuwerden.

Chefärztin Dr. Ursula Kleine ist Expertin für das heikle Thema Schmerz. Bild: Petra Hartl
Chefärztin Dr. Ursula Kleine ist Expertin für das heikle Thema Schmerz.

Das sagt auch eine Medizinerin, die für ihre Patienten oft die letzte Hoffnung im Kampf gegen chronische Schmerzen ist: Dr. Ursula Kleine, die Chefärztin der Tagesklinik für Schmerztherapie. Diese Einrichtung existiert seit drei Jahren am Klinikum St. Marien. Die Redaktion hat Ursula Kleine zu ihrer Tätigkeit befragt.

ONETZ: Frau Dr. Kleine, wie können denn Patienten zu Ihnen kommen?

Ursula Kleine: Wir sind nie eine primäre Anlaufstelle, wir sind ein schmerztherapeutisches Zentrum. Das heißt, wir dürfen ambulant auf Überweisung tätig sein und wir behandeln Patienten teilstationär und inzwischen auch stationär. Aber es ist nie so, dass ein Patient selber zu uns kommen kann, es ist immer ein niedergelassener Kollege vorgeschaltet, der seine Patienten kennt. Nur wenn die ursächliche Behandlung nicht fruchtet, dann überweist der niedergelassene Arzt in unsere Schmerzambulanz. Ohne Überweisung dürfen wir nicht tätig werden.

ONETZ: Also wenn die anderen Ärzte mit ihrem Latein am Ende sind ...

Ursula Kleine: ... eher wenn sie sagen, es gibt keine gute ursächliche Therapie oder es braucht eine spezifische medikamentöse Therapie, mit der der Orthopäde oder Allgemeinarzt weniger Erfahrung hat.

ONETZ: Geht es da um chronische Schmerzen?

Ursula Kleine: Sicher, wir dürfen nur Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen behandeln. Die Frage ist, wie chronische Schmerzen definiert werden. Chronisch bedeutet, es hat was mit der Zeit zu tun. Deshalb nehmen die Schmerztherapeuten diesen Begriff ganz ungern. Es gibt nämlich Schmerzerkrankungen, die von Anfang an als chronische Schmerzen zu sehen sind.

ONETZ: Welchen Begriff nehmen Sie dann?

Ursula Kleine: Wir sagen lieber, es sind neuropathische Schmerzen. Der große Unterschied ist: Bei einem akuten Schmerz habe ich immer eine Auslösung irgendwo im Gewebe - eine Entzündung, arthritische Veränderungen, ein schlecht durchblutetes Herz. Und der Schmerz ist das Warnsignal, das man beachten muss.

ONETZ: Und im anderen Fall?

Ursula Kleine: Da gibt es die Schmerzen, die ausgelöst werden, weil die Nerven, die den Schmerz leiten, in ihrer Funktion geändert sind. Kann sein, dass da was drauf drückt - wie beim Bandscheibenvorfall. Das sind ganz andere Schmerzen, viel schlimmere. Zahnwurzelschmerz etwa ist auch ein Nervenschmerz. Und es gibt Schmerzen, bei denen der Nerv selbst von Krankheiten betroffen ist, bestimmte Formen von Herpes-Erkrankungen etwa. Es gibt Schmerzen durch Zuckererkrankung oder durch Chemotherapie oder durch lange Intensivbehandlung, wo die Nerven ihre Funktion verändert haben.

ONETZ: Gehen Schmerzen immer über Nerven?

Ursula Kleine: Ja, die werden immer über Nerven geleitet. Und wir nehmen den Schmerz erst wahr, wenn die Nerven ihn in die Großhirnrinde bringen.

ONETZ: Wie entsteht die unterschiedliche Schmerzstärke?

Ursula Kleine: Schmerz ist ja nur ein Gefühl, das ist nichts, was man messen kann, sondern eine subjektive Wahrnehmung. Die Nervenfunktion kann auch dadurch geändert sein, dass der Nerv sich durch Training von Schmerzleitung geändert hat. Das Schmerzgedächtnis ist ein Lernprozess, der zu verstärkter Schmerzwahrnehmung führt, und zwar immer in dem Bereich, für den diese Nerven zuständig sind.

ONETZ: Was heißt das für den Schmerzpatienten?

Ursula Kleine: Es heißt, der Nerv verändert seine Reaktionsfähigkeit. Er reagiert viel schneller oder löst Schmerzwahrnehmung irgendwann selbstständig aus, wie wenn man ein Musikstück auswendig spielt.

ONETZ: Können Sie ein Beispiel nennen?

Ursula Kleine: Es kann etwa sein, dass man einen Bandscheibenvorfall im MRT gar nicht mehr sieht, aber der Nerv ist trainiert und macht aus einem bisschen Schmerzreiz gleich einen starken Schmerz. Bei Patienten führt das zu dem Eindruck: Bei mir ist es immer die gleiche Stelle, da muss doch noch was sein, was ich ursächlich behandeln kann. Wir sagen deshalb: Das Verständnis für den Schmerz, die Information ist für den Patienten ganz wichtig.

ONETZ: Aber wie kann man das heilen?

Ursula Kleine: Wir haben einen anderen Ansatz und sagen: So ein Schmerz ist multifaktoriell. Es kommt da immer vieles zusammen. Neue Sorgen können etwa das Schmerzgedächtnis dazu bringen, dass es an den alten Stellen nach langer Zeit wieder wehtut. Dann hilft es nichts, an dieser Stelle einfach nur zu massieren, sondern dann muss ich die ganze Lebenssituation sehen.

ONETZ: Was könnte dann helfen?

Ursula Kleine: Gezielte Bewegung, aber auch Ausdauersport, Muskelentspannung, eine andere Bewertung belastender Lebensumstände, ein anderer Umgang damit können hilfreich sein. Der Patient muss sich auf Neues einlassen, aber auch alte Therapieideen dazu, was hilft oder was er vermeiden muss, aufgeben. Das ist für Patienten oft harte Arbeit.

ONETZ: Welche Erfolgsquote haben Sie? In wie vielen Fällen bringt man den Schmerz ganz weg, in wie vielen gelingt eine nennenswerte Linderung?

Ursula Kleine: Wir führen im Moment keine Statistik, ich kenne aber Statistiken. Die besagen, es ist sehr selten, dass der Schmerz ganz weggeht. Dass es deutlich besser wird, erreichen wir beim Gros der Patienten. Es gibt aber auch einige wenige, bei denen gar keine Linderung eintritt. Irgendwas kann man in der Regel erreichen. Bei denen, die wir tagesklinisch behandeln, also vier Wochen lang, würde ich sagen, dass wir bei 80 bis 85 Prozent einen deutlichen Zugewinn an Funktionalität erreichen und dass etwa drei Viertel sagen, die Schmerzen sind deutlich weniger geworden. Wie das anschließend weitergeht, hängt auch davon ab, wie groß die Motivation für den Patienten ist, das, was wir ihm vermittelt haben, auch im Alltag weiter umzusetzen.

ONETZ: Das heißt, er kann die Behandlung nicht einfach über sich ergehen lassen und erwarten, dass es allein dadurch besser wird?

Ursula Kleine: Nein, das ist eine aktivierende Therapie. Im teilstationären Setting ist sie sehr umfangreich, die Patienten haben acht Stunden Therapie, und das ist so anstrengend wie ein Acht-Stunden-Arbeitstag. Deshalb ist das nur für Patienten geeignet, die noch eine gewisse Belastbarkeit haben. Wo die nicht mehr vorhanden ist, haben wir jetzt die Möglichkeit der stationären Aufnahme geschaffen.

ONETZ: Nur für diese Fälle?

Ursula Kleine: Und auch, weil wir Patienten haben, etwa aus Selb, die diese Entfernung nicht jeden Tag in die Tagesklinik fahren können.

ONETZ: Also vergrößert sich mit dem stationären Angebot die Anzahl der potenziellen Patienten.

Ursula Kleine: Man kann jetzt anderen Patienten ein Therapieangebot machen. Es gab immer wieder welche, die diese Belastung teilstationär nicht geschafft hätten oder die einen erhöhten Überwachungsbedarf haben.

ONETZ: Wann ist die stationäre Variante noch zu empfehlen?

Ursula Kleine: Wenn die Familiensituation extrem belastend ist und wir sehen, es täte dem Patienten gut, wenn er da mal rauskäme.

ONETZ: Ist es manchmal schon ein Erfolg, wenn der Patient lernt, mit dem Schmerz zu leben, selbst wenn es nicht wirklich besser wird?

Ursula Kleine: Ich strebe schon eine Schmerzreduktion an und eine bessere Funktionalität, also dass der Patient seinen Alltag besser bewältigen, sein Leben selbstbestimmter gestalten kann. Und trotzdem gibt es manchmal Patienten, die sagen, meine Schmerzen sind nicht besser geworden, aber mir geht es viel besser, ich komme damit besser zurecht. Ich weiß etwa, es schadet mir nicht, wenn ich mich bewege. Es kann sein, dass ich damit nicht so zufrieden bin, der Patient aber schon.

ONETZ: Schmerzfreiheit ist also schwierig zu erreichen.

Ursula Kleine: Das ist tatsächlich etwas, das wir niemandem versprechen. Es wäre ein Glückstreffer, das gelingt nicht sehr häufig.

ONETZ: In welchen Organen haben die Patienten, die zu Ihnen kommen, am häufigsten Schmerzen? Im Rücken, im Kopf?

Ursula Kleine: Mit Abstand am häufigsten im Rücken, das macht so 60 bis 65 Prozent aus.

ONETZ: Was sind Ihre erfolgreichsten Methoden bei der Schmerzbekämpfung?

Ursula Kleine: Bewegung alleine ist immer schmerzlindernd, weil wir durch Bewegung Endorphine ausschütten, und die sind schmerzlindernd, genauso wie Morphin oder Opium. Das spüren unsere Patienten gleich in der ersten Woche: Es ist anstrengend, es ist erschöpfend, aber die Bewegung tut gut. Auf Bewegung können die meisten Patienten sich auch gut einlassen. Genauso wichtig ist aber auch der Gegenpol dazu, die Entspannung, letztendlich auch die geistige Entspannung. Und natürlich ist Psychotherapie auch wichtig. Etwa wenn es ein chronischer Schmerz ist, der das ganze Leben betrifft.

ONETZ: Wie groß ist Ihr Patientenpotenzial? Wie viele Menschen haben so starke Schmerzen, dass sie bei Ihnen richtig aufgehoben wären?

Ursula Kleine: Laut Deutscher Schmerzgesellschaft erfüllen sechs Millionen Deutsche  die Kriterien eines chronischen, nicht tumorbedingten, beeinträchtigenden Schmerzes. Die sollten einen Schmerztherapeuten aufsuchen. Auf die Einwohnerzahl von Amberg und dem Landkreis runtergebrochen wären das über 10 000 Menschen.

ONETZ: Wie viele Patienten behandelt die Schmerzklinik im Jahr?

Ursula Kleine: In der Ambulanz behandeln wir circa 250 Patienten im Quartal, in der Tagesklinik in den Gruppen mit acht Patienten über je vier Wochen sind es knapp 100 Patienten pro Jahr. Und stationär haben wir erst im März begonnen und nehmen aktuell maximal drei Patienten gleichzeitig auf.

ONETZ: Mit welcher Wartezeit muss jemand rechnen, der als Patient zu Ihnen kommen möchte?

Ursula Kleine: Mit fünf Monaten für einen ambulanten Vorstellungstermin, stationäre und teilstationäre Aufnahme kann sehr zeitnah erfolgen.

ONETZ: Tatsächlich fünf Monate?

Ursula Kleine: Ja, leider. Das wird nicht mehr, aber leider auch nicht weniger. Das ist irgendwann ganz am Anfang entstanden, als wir noch weniger Ambulanzzeiten hatten. Und diesen Berg schieben wir vor uns her. Wichtig wäre, dass Patienten, die Termine nicht wahrnehmen wollen, sich abmelden, damit andere nachrücken können.

ONETZ: Können Sie ein schönes Erlebnis mit einem Patienten schildern, dem Sie geholfen haben?

Ursula Kleine: Es gibt immer wieder Patienten, die mit einem Morbus Sudeck im späten Stadium kommen. Da schwellen Hände und Füße dick an, jede Bewegung, jede Berührung ist schmerzhaft. Diese Patienten haben oft eine Hand, die sie gar nicht mehr nutzen, die blau verfärbt ist, für die sie schon gar keine Hoffnung mehr haben. Wenn die nach einem halben Jahr wieder in der Altenpflege arbeiten, dann sind wir auch glücklich.

 
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