Floß
03.08.2023 - 09:16 Uhr

Geschichtsunterricht aus erster Hand: Fred Lehner stellt Floß und seine Juden vor

Herzensangelegenheiten verlieren auch im hohen Alter nicht an Wert. Fred Lehner erkundet die jüdische Vergangenheit seines Heimatorts, um sie in die Zukunft hinüberzuretten. Dabei hofft er auf einflussreiche Fürsprecher.

Fred Lehner singt mit den Pfarrern Alfons Forster, Wilfried Römischer und Max Früchtl (stehend, von links) in der Flosser Synagoge "Shalom Aleichem". Regierungspräsident Walter Jonas (sitzend, Zweiter von links) hält die Szene auf einem Foto fest. Bild: Gabi Schönberger
Fred Lehner singt mit den Pfarrern Alfons Forster, Wilfried Römischer und Max Früchtl (stehend, von links) in der Flosser Synagoge "Shalom Aleichem". Regierungspräsident Walter Jonas (sitzend, Zweiter von links) hält die Szene auf einem Foto fest.

Jetzt spricht er schon eine knappe Stunde. Immer noch mitreißend, immer noch leidenschaftlich, ohne nach manchem Exkurs den Faden zu verlieren. Und immer noch denken knapp 20 Zuhörer, was sie sich hinterher unbedingt beim Smalltalk im Gasthaus Schaller sagen müssen: Kaum zu glauben, dass dieser Mann schon 91 ist. Die Rede ist von Fred Lehner. Der ehemalige Bürgermeister von Floß reitet gerade gekonnt eines seiner Steckenpferde: die jüdische Geschichte seines Heimatortes.

Der 28. Juli 2023 ist kein Gedenk-, Jahres- oder Feiertag. Es ist ein Freitag, an dem endlich mal jeder von denen Zeit hat, die Lehner seit langem eingeladen hat: Regierungspräsident Walter Jonas, Bezirksheimatpfleger Tobias Appl und Renate Höpfinger, die Chefarchivarin der Hanns-Seidel-Stiftung, die ihre Doktorarbeit über die jüdische Gemeinde von Floß geschrieben hat. Dazu kommen Kommunalpolitiker, Geistliche, Journalisten.

In der Flosser Synagoge, die es ohne Lehner wahrscheinlich nicht mehr geben würde, spannt er den Bogen vom Jahr 1684, als sich die ersten Juden in Floß niederließen, bis heute, wo seit 80 Jahren keine Juden mehr hier leben. Trotzdem ist ihre Geschichte allgegenwärtig, nicht nur am Ortsausgang Richtung Flossenbürg, auf dem Friedhof, den Lehner mit Jonas später besucht.

Zeitzeuge der Pogromnacht

Wenn Lehner wie jeder nur halbwegs vernunftbegabte Mensch vor Antisemitismus und Relativierung der nationalsozialistischen Verfolgung warnt, klingt das weder ritualisiert noch floskelhaft. Jonas ist beeindruckt, dass er hier einen Zeitzeugen vor sich hat, der im Elternhaus gleich neben der Synagoge aufgewachsen ist und als Sechsjähriger miterlebt hat, wie SA-Leute unter Protest seines Vaters am 9. November 1938 das Gebäude verwüstet haben. Jenes Haus, in das seine Nachbarn ab und an gingen. Die Ansbachers, Steinhardts, Blochs. Lehner kannte sie alle.

Beim Textilhändler Hugo Wilmersdörfer war Lehner im April 1942 mit Schwester Emmi zur Anprobe für den Kommunionanzug. Mutter Paula konnte nicht mitkommen, die war mit dem elften Kind hochschwanger. Fred und Emmi richteten jedoch aus, dass die Mama ein paar Tage später vorbeischauen würde, um den Anzug zu bezahlen. Das geschah nie. Zwei Tage nach der Übergabe des Anzugs verschwanden die Wilmersdörfers aus Floß. Für immer. Ihr Leben ging in Theresienstadt zu Ende.

Erlebnisse wies dieses brachten Lehner später dazu, sich dafür einzusetzen, dass aus dem "Judentempel", wie die Flosser einst zur Synagoge sagten, keine Schule oder ein Wohnhaus wurde. Dass das Gotteshaus auch nicht weiter verfiel, weil es in der Nachkriegszeit praktisch war, dort zwischen Trümmern und Schutt die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen.

Neues Leben ab 1980

1980 wurde es nach jahrzehntelanger Restaurierung wiedereröffnet. Als einzige Synagoge unter kommunaler Trägerschaft in Bayern, wie Lehner stolz betont. Da war er gerade acht von später insgesamt dreißig Jahren Bürgermeister. In jener Zeit lud er immer wieder überlebende Flosser Juden und ihre Nachkommen ein, noch einmal in den Ort zu kommen.

Die Synagoge ist inzwischen ein wichtiger Anlaufpunkt für die "Woche der Brüderlichkeit". Jeder evangelische und katholische Ortspfarrer, den die Landeskirche hierher verschlägt, beschäftigt sich mit dem Gotteshaus, das für Juden in der ganzen Oberpfalz Symbolcharakter hat. Nicht zuletzt, weil Fred Lehner sich auch mit 91 unermüdlich für dieses Erbe einsetzt. Auf seine Weise hat er den Kommunionanzug inzwischen bezahlt.

Eine Onetz-Serie zum jüdischen Leben in Floß

Hintergrund:

Eckdaten jüdischen Lebens in Floß

  • 1684 Ansiedlung von vier Familien nach Vertreibung der Juden aus Neustadt/WN
  • 1719 bis 1722 Bau einer hölzernen Synagoge
  • 1817 Einweihung der neuen klassizistischen Synagoge
  • 1840er Jahre Auswanderungswelle nach Nordamerika
  • Von 1933 bis 1942 lebten 27 Juden in Floß, von denen 15 auswandern konnten, 2 starben in Floß, 6 zogen in andere Orte.
  • 9.11.1938 Pogromnacht
  • 2.4.1942 Deportation der Ehepaare Ansbacher und Wilmersdörfer
  • 1945 bis 1949 Israelitische Kultusgemeinde von Displaced Persons
 
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