Im Pfreimder Haas-Haus wird eine Schmiede mit Ergotherapie neu definiert

Pfreimd
13.01.2023 - 16:19 Uhr
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Vor Jahrzehnten wurde hier Eisen bearbeitet. Jetzt hat sich der Standort an der Kreuzung in Pfreimd zur "Lernschmiede" gemausert. Im frisch sanierten Haas-Haus trifft eine nagelneue Kletterwand auf Spuren der Vergangenheit

Mit ihrer "Ergo-Praxis" ist Mareike Scharl die erste neue Mieterin im denkmalgeschützten, sanierten und umgebauten Haas-Haus - abgesehen von den benachbarten Kiefer-Orthopäden, die sich im ersten Stock über einen Mauerdurchbruch neue Räume erschlossen haben. Scharl hat den grün gestrichenen Anbau bezogen. Hier stand früher einmal eine Schmiede, die einst den Grundstein legte für eine Kaufmanns-Dynastie: "Beim Haas", so der bekannte Familienname, gab es zeitweise fast alles, vom Kochtopf bis zur Klobürste, vom Schlüssel bis zur Schraube. Nach dem Laden ist sogar die zentrale Kreuzung benannt, wo das von der Stadt sanierte Anwesen nun die Blicke auf sich zieht.

Bei einem Tag der offenen Tür im Herbst durften sich alle Bürger dort umsehen, jetzt sind die Räume den Mietern und ihren Kunden vorbehalten. In die früheren Ladenräume wird im Februar eine Logopädie-Praxis einziehen, im rückwärtigen Teil ist schon die Theke für eine Eisdiele eingetroffen. Bei Mareike Scharl geht es bereits seit 1. Oktober bunt und lebhaft zu: auf der gepolsterten roten Schaukel, im Bälle-Bad oder an der Kletterwand mit den farbigen Griffen. Viele Kinder, aber auch einige ältere Menschen sind hier inzwischen ein Stück Richtung Heilung marschiert, dank Ergotherapie.

Platz für die Vergangenheit

Auch ein paar Relikte aus der Vergangenheit durften sich breitmachen zwischen den frisch gestrichenen Wänden, vom original Fenster aus dem Altbau, über ein kleines Schränkchen aus dem früheren Geschäft bis hin zum alten Familienfoto vor dem Haus, das inzwischen Denkmal-Status hat. Die neue Mieterin hat dieses Bauwerk zurück in den Ort geführt, der seit ihrem 16. Lebensjahr ihre Heimat ist. Hier hattest sie auch zum ersten Mal Kontakt mit dem späteren Beruf. "Meine Stief-Oma war damals pflegebedürftig. Eine Ergotherapeutin ist ins Haus gekommen und hat mit ihr Plätzchen gebacken", daran erinnert sich die 37-Jährige noch ganz genau. "Das wäre doch was für dich", meinte ihre Mutter - und behielt recht. Mareike Scharls zweijährige Tochter Lilly gab schließlich den Ausschlag dafür, dem bisherigen Arbeitsplatz in einer Praxisgemeinschaft in Pressath den Rücken zu kehren und in Pfreimd einen Neuanfang in der Selbstständigkeit zu wagen.

Wer die Räume in der Leuchtenberger Straße 12 besucht, dem wird schnell klar, dass es hier nicht darum geht, wie beim Arzt auf einer Liege Platz zu nehmen, und auch nicht rein um Bewegung, wie bei der Physio-Therapie. "Physio brauche ich, damit ich gehen kann, Ergo damit ich die Hose anziehen kann", zitiert Mareike Scharl eine frühere Kollegin. Alltagspraktisch und umfassender sollen die Ziele hier sein, wenn Menschen nach einem Schlaganfall Hilfe suchen, oder Kinder mit Entwicklungsdefiziten aufgefallen sind.

Selbstbewusst statt verkrampft

Bei den Kleinen ist es oft der Umgang mit einem Stift, der den Stein ins Rollen bringt. "Das ist sehr komplex, Schreiben beginnt schon an der Schulter und bei der Art wie ich sitze", sagt die Therapeutin, die viel mit verkrampften Bewegungen zu tun hat. Aktuell sind es überwiegend Kinder, denen sie hilft, wenn auch das Selbstbewusstsein schon schwer angekratzt ist. "Das Selbstbewusstsein ist eine sehr fragile Geschichte", weiß die 37-Jährige, die in der Schule als Legasthenikerin oft gesagt bekam, sie sei dumm - trotz der Eins in Mathe. Das hat den Blick geschärft auf kleine und große Menschen, die vielleicht Ermutigung brauchen oder einfach nicht gelernt haben, auf Arme und Beine zu achten.

"Nur Herumlaufen, das hat nichts mit Lernen zu tun", erklärt die Therapeutin, die Bewegung gezielt mit Aufgaben kombiniert, die als kleine Erfolgserlebnisse ein wenig stärker machen. An der Kletterwand im ersten Stock wird nicht einfach wild herum gekraxelt.

Der fünfjährige Max, der mit seiner Mutter und der kleinen Schwester hier nur zu Besuch ist, stellt das Rumtollen ein und genießt die Anerkennung, wenn er von ganz oben auf der Wand mit den bunten Griffen ein kleines Säckchen herunter holen kann. Dort, wo die Holzkonstruktion endet und oben an der Wand neben der Pfreimder Eixlberg-Kirche auch ein paar Gämsen aufgemalt sind.

"Wenn die Kinder sagen, dass sie hier bei mir auf dem Eixlberg waren, dann stimmt das schon irgendwie", sagt die Praxis-Inhaberin mit einem Schmunzeln. Und mit etwas Glück und Training werden in ihrer "Entwicklungs- oder Lernschmiede" große Berge irgendwann viel kleiner.

Hintergrund:

Ergotherapie: Heilmittel mit ganzheitlichem Ansatz

  • Die Therapeutin: Mareike Scharl, Jahrgang 1985, aufgewachsen in der Oberpfalz, seit ihrem 16. Lebensjahr in Pfreimd; Ausbildung zur Ergotherapeutin in Dresden, 2011 Zusatz-Studium zur Diplom-Ergotherapeutin, Berufserfahrung seit 2009, seit 2016 sensorisch integrative Ayres-Therapeutin
  • Die Zielgruppe: Kinder mit ADS/ADHS, Autismus, Lernschwächen, Entwicklungsrückständen, neurologischen Erkrankungen und Wahrnehmungsproblemen, Erwachsene bei Schlaganfall, Parkinson, Long Covid oder demenziellen Erkrankungen.
  • Die Therapie: medizinischer Heilberuf; Wortteil "Ergo" (Werk, Tat Aktivität, Leistung) stammt aus dem Griechischen; eine durch Krankheit oder Entwicklungsstörung verlorengegangene oder schwache Handlungsfähigkeit im Alltagsleben soll (wieder) erreicht werden, ganzheitlicher Ansatz, der sich nicht nur an Bewegung orientiert; wird vom Arzt als Heilmittel verordnet
 
 

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