04.09.2018 - 16:36 Uhr

Die Schule, ein unentdecktes Land

Kein Abc-Schütze muss vom ersten Schultag an alles können. Die meisten Erstklässler machen in den ersten sechs Monaten einen gewaltigen Entwicklungsschub durch. Tipps für Eltern zum Schulanfang.

Kein Abc-Schütze muss vom ersten Schultag an alles können. Bild: drubig-photo - stock.adobe.com
Kein Abc-Schütze muss vom ersten Schultag an alles können.

Am 11. September ist Schulbeginn. Die Erwachsenen sagen: "Nun beginnt der Ernst des Lebens." Doch nicht dem Kind sollte das gesagt werden, denn auch die Eltern werden immer "mit eingeschult".

Praktisch gestern noch ist der Nachwuchs im Kindergarten gewesen. Die Mädchen und Jungen sind morgens hingebracht worden, die Mama zieht ihnen die Schuhe aus, hängt die Jacke an den Haken. Beim Abholen das gleiche Spiel. Damit ist in der Grundschule Schluss. Wo es möglich ist, sollte der Schulweg in den Ferien noch einige Male gemeinsam abgegangen werden, um dann von den Kindern alleine gemeistert zu werden. Wer seine Kinder mit dem Auto bringt, sollte sie niemals direkt bis zur Schultüre fahren. Das Gleiche gilt für das Abholen. Ab dem zweiten Tag kommt Mama nicht mehr mit ins Klassenzimmer. Das Signal lautet: "Du bist groß und darfst/kannst Dinge schon gut alleine tun."

Das hat Konsequenzen: Auf der einen Seite gibt es den "Überflieger", der sich nichts mehr sagen lassen will, also bockig wird. Schließlich ist er ja jetzt groß und will alleine entscheiden. Auf der anderen Seite hinkt aber oft die Selbstsicherheit hinterher. Die Kinder sind gelegentlich auch einfach überfordert, was zu Weinerlichkeit oder auch Aggressivität führen kann.

So gelingt der Start in die Schule:

Nehmen Sie die Einschulung ernst. Sie ist ein wichtiger Schritt. Aber seien Sie nicht allzu aufgeregt. Freuen Sie sich mit dem Kind auf all das, was nun kommt: neues Wissen, neue Freundschaften und den neuen Lebensraum Schule. Vater und Mutter haben natürlich auch ihre eigenen Erfahrungen, welche Probleme in der Schulzeit auftreten können. Sprechen Sie vor dem Kind niemals Problemsituationen an. Wenn ein Kind neugierig und freudig in die Schule geht, ist das ein perfekter Start.

Wichtig ist die Situation am Morgen. Die Schule beginnt relativ früh. Wenn ein Kind das nicht gewohnt ist, dann sollten Eltern das frühe Aufstehen vor dem Schulstart trainieren. Die Familie muss auch darauf achten, zügig und gelassen alles auf die Reihe zu bringen: Frühstücken, Zähneputzen, Anziehen. Die Schultasche wird bereits am Vorabend mit allen wichtigen Dingen fertig hingestellt. Erstklässler müssen von Anfang an lernen, pünktlich zur Schule zu kommen und nicht auf dem letzten Drücker durch die Tür zu stürzen. Das sollte geübt werden.

Kaum ein Vorschulkind ist in allen Bereichen gleichermaßen gut entwickelt. Das eine kann vielleicht schon einfache Sätze lesen, fängt aber an zu weinen, sobald es ein unbekannter Mensch anspricht. Ein anderes Kind kann stundenlang konzentriert Roboter aus Lego zusammensetzen, aber schlecht malen. Auch wenn es schwerfällt, mögliche Schwächen des eigenen Kindes zu akzeptieren, gilt: Kein Abc-Schütze muss vom ersten Schultag an alles können. Die meisten Erstklässler machen gerade in den ersten sechs Monaten einen gewaltigen Entwicklungsschub durch.

Viele Jahrzehnte wurde in der Pädagogik der Begriff "Schulreife" verwendet. Dieses Wort existiert nicht mehr, ein Apfel kann reifen, nicht aber ein Kind. Grundsätzlich gilt das Wort "schulfähig". Das ist ein Kind, wenn es eine Reihe von  Verhaltensmerkmalen und Leistungseigenschaften aufweist. Dabei geht es gar nicht so sehr um Wissen, sondern mehr darum, wie es sich verhält. Experten sprechen von der "sozialen und emotionalen Schulfähigkeit" eines Kindes. Es muss demnach ein soziales Regelverständnis haben, Anstrengungsbereitschaft zeigen, anderen zuhören und sie ausreden lassen können. Für kleine Jungen und Mädchen ist das oft gar nicht so einfach.

Emotionale Reife

In der Schule verbringen Kinder jeden Tag viele Stunden mit anderen Kindern. Sie müssen gemeinsam lernen, Aufgaben lösen, und können in den Pausen miteinander spielen. Ein Kind kann noch so lernfreudig und schlau sein: Wenn es emotional noch nicht weit genug ist, ist es vielleicht zu früh für die Schule. Ein Schulkind sollte sich morgens ohne Probleme von seinen Eltern lösen, mit Rückschlägen und Enttäuschungen ohne große Ausbrüche umgehen und eigene Bedürfnisse aufschieben können. Es sollte zudem genügend Vertrauen in eigene Fähigkeiten sowie keine übermäßige Angst vor der neuen Einrichtung, anderen Kindern und Erwachsenen haben. All das hat auch Einfluss darauf, wie gut und erfolgreich ein Kind in der Schule lernen kann. Im Kindergarten wurde das über Jahre geübt, doch nicht bei allen Kindern ist dieser Prozess abgeschlossen.

Die meisten Kinder freuen sich auf die Schule und wollen von sich aus lernen. Diese Neugier und "intrinsische Motivation" (eigener Antrieb) sind günstige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schulstart. Wenn dazu noch ein gewisses Maß an Ausdauer, Anstrengungsbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit kommt, ist das Kind bereit für die Schule. Der große Wunsch der Grundschullehrer an Eltern: Keinesfalls mit der Einschulung schon das Gymnasium ins Spiel bringen.

Die flächendeckende Einführung der sechsstufigen Realschule in Bayern vor 18 Jahren prägt die bayerische Bildungslandschaft von heute mehr denn je: Realschulen und Gymnasien platzen aus allen Nähten, die Belastungen für die Lehrerschaft sind extrem geworden. Die meisten Grundschulkinder leiden unter dem massiven Übertrittsdruck am Ende der vierten Klasse. Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder davon krank werden. Viele verlieren Motivation und Lernfreude.

Die Bedeutung des kindlichen Staunens für die Sinnsuche betonte der Psychiater und Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883 bis 1969). Während sich Erwachsene vielfach selbstvergessen in der gut funktionierenden Welt eingerichtet und die Sinnfrage abschließend beantwortet - und das heißt oft auch, als sinnlos abgetan - haben, sind Kinder als Weltneulinge noch neugierig und zum Staunen über Unverstandenes und Ungewöhnliches fähig.

Sinn erspüren

Wer die Gelegenheit hat und sich die Zeit nimmt, Kinder zu beobachten, bewundert oder bestaunt ihre Ausdauer und ihr neugieriges Staunen, wenn sie etwa ein Spielzeugauto, einen Luftballon, Sand, Wasser oder einen anderen Gegenstand betrachten und ausprobieren. Kinder sind Weltneulinge, Reisende in einem für sie fremden, faszinierenden und auch bedrohlichen Land. Für sie gibt es eine Menge zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu fühlen, zu tasten und zu fragen, um sich in der Welt zurechtzufinden und in ihr einen Sinn zu erspüren.

Im Staunen von Kindern oder im kindlichen Staunen jenseits eingespielter Sprach- und Denkmuster sieht Jaspers in seiner "Einführung in die Philosophie" den Anfang der Sinnfrage enthalten, wenn auch keineswegs bereits als Sinnfrage in ihrer existenziellen Tiefe. Viele Kinderfragen sind nach Jaspers Beleg für eine "Kinderphilosophie" im Sinne einer echten Philosophie von Kindern, die nicht herablassend als Philosophie für Kinder betrachtet werden kann. Schleswig-Holstein hat das erkannt: Hier wurde der Philosophieunterricht in der Grundschule verbindlich im August 2011 eingeführt. (cr)

Kaum ein Vorschulkind ist in allen Bereichen gleichermaßen gut entwickelt. Das eine kann vielleicht schon einfache Sätze lesen, fängt aber an zu weinen, sobald es ein unbekannter Mensch anspricht. Bild: Bild: detailblick-foto – stock.adobe.com
Kaum ein Vorschulkind ist in allen Bereichen gleichermaßen gut entwickelt. Das eine kann vielleicht schon einfache Sätze lesen, fängt aber an zu weinen, sobald es ein unbekannter Mensch anspricht.
Wo es möglich ist, sollte der Schulweg in den Ferien noch einige Male gemeinsam abgegangen werden, um dann von den Kindern alleine gemeistert zu werden. Bild: Rainer Christoph
Wo es möglich ist, sollte der Schulweg in den Ferien noch einige Male gemeinsam abgegangen werden, um dann von den Kindern alleine gemeistert zu werden.
 
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