Die "Inklusive Region Tirschenreuth" will als Modellregion für die Oberpfalz Inklusion in Kindergärten und Schulen weiterentwickeln. Allerdings sind auch einige Hürden zu überwinden. Das wurde bei einem Besuch von Holger Kiesel, Behindertenbeauftragter der Staatsregierung, deutlich. Seit 2019 übt er dieses Amt aus. Kiesel weiß, wovon er spricht. Der frühere freie Journalist ist nach einer spastischen Lähmung selbst auf den Rollstuhl angewiesen und kennt die Probleme von Leuten mit Handicap aus eigener Erfahrung.
Viele Probleme und Themen, welche die Akteure der Inklusion im Landkreis beschäftigen, kamen nach einer Pressemitteilung des Netzwerks Inklusion auf den Tisch. Die Palette reichte von versiegenden Fördermitteln für die digitale Wohnberatung im Landkreis Tirschenreuth über die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen bis zur fehlenden Barrierefreiheit in vielen staatlich geförderten Bauten.
Übergangsphasen besonders im Blickpunkt
Das von Christina Ponader vom Netzwerk Inklusion ausgearbeitete Programm begann mit einem Schulbesuch. Mit seinem Mitarbeiter Dr. Sebastian Thoma hospitierte der Behindertenbeauftragte in der vierten Klasse von Lehrerin Cornelia Schuller in der Marienschule Tirschenreuth, die seit 2010 eine von vier Profilschulen für Inklusion im Schulamtsbezirk Tirschenreuth ist. Mit Schulamtsdirektorin Martina Puff, Ponader, Rektorin Gabriele Grünwald, Ursula Huber vom Sonderpädagogischen Förderzentrum Tirschenreuth und dem Studienrat für Förderschulen, Jakob Seifert, habe die inklusvie schulische Bildung im Mittelpunkt gestanden.
Puff als Sprecherin der Steuergruppe erläutert, welche Ziele in der Modellregion bereits umgesetzt worden seien. "Dabei lag der bisherige Schwerpunkt vor allem bei den Übergängen zwischen Kita und Grundschule, Grundschule und weiterführende Schulen sowie Schule und Beruf. Hier wurden schon viele kreative sowie nachhaltige Ideen und Lösungen entwickelt, wie der Übergang von einer Einrichtung in eine andere reibungsloser für die Kinder und Jugendliche gestaltet werden kann." Kiesel sei erfreut gewesen, welche Netzwerke die Modellregion für Inklusion im schulischen und das Netzwerk Inklusion im außerschulischen Bereich bereits aufgebaut hätten.
Anschließend stand ein dreieinhalbstündiges Fachgespräch im Landratsamt auf dem Programm, an dem Landrat Roland Grillmeier und über ein Dutzend Akteure der Modellregion teilnahmen, darunter Vertreter der Lebenshilfe, der Stiftland-Werkstätten, der Schulen und der sozialen Dienste. Als wichtig erachteten die Teilnehmer dabei nach der Mitteilung die Vernetzung von schulischen mit außerschulischen Angeboten in der Modellregion.
Zu wenig außerschulische Angebote
Inklusive politische Bildung in Bayern sei unterrepräsentiert, lautete ein weiterer Kritikpunkt. Außerhalb von Schule gebe es so gut wie keine Angebote. Einzelne Impulse tauchten zwar immer wieder auf, eine dauerhafte und strukturierte Förderung fehle aber bisher. Die Teilnehmer hätten Kiesel gebeten, alle großen Bildungsakademien deswegen zu kontaktieren. Ein Problem sei für Leute mit Handicap die Mobilität im Flächenlandkreis Tirschenreuth. Eine barrierefreie Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei kaum vorhanden. Mobilität sei aber eine Grundlage für soziale Teilhabe.
Ein wichtiges Thema sei auch die Umsetzung der SGB-VIII-Reform gewesen: Das Jugendamt Tirschenreuth habe eine Fachdienststelle für Kinder mit seelischer Behinderung eingerichtet. Aktuell fehle aber noch das Fachwissen der Behindertenhilfe in der Jugendhilfe, um wirklich bis zum Jahr 2028 alle Kinder und Jugendlichen, egal ob mit oder ohne Behinderung, über das Jugendamt unterstützen zu können. Im Landkreis wolle man nicht bis 2028 warten, sondern schon früher mit einer stärkeren Verzahnung beginnen.
Mehrfachdiagnosen nehmen zu
Die Teilnehmer beklagten auch, dass die Zahl der Kinder und Jugendliche mit Mehrfachdiagnosen zunehme, also dass zu einer geistigen Behinderung oft noch ein psychiatrisches Störungsbild oder andere Verhaltensauffälligkeiten kämen. Das könne nicht mehr allein durch einen verstärkten und flexiblen Einsatz von Individualbegleitungen in der Schule gelöst werden. Ganzheitliche Lösungen, die über Schule hinausgingen und die Etablierung passender Angebote für Kinder und Jugendliche mit komplexem Hilfebedarf seien notwendig. Hinzu kämen in der Region noch eine massive Unterversorgung im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich.
Auch die fehlende Barrierefreiheit in vielen Gebäuden kam zur Sprache. Sie müsse die gleiche Bedeutung bekommen wie der Brandschutz, mit einer rechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung bei Neubauten und Sanierungen. Um dieses und weitere Themen voranzubringen, sei eine Förderung von hauptamtlichen Netzwerk- und Inklusionsstellen in Bayern nötig, es dürfe nicht alleine vom Willen und der Finanzkraft einer Kommune oder eines Landkreises abhängen, ob sich jemand hauptamtlich um Inklusion und Teilhabe kümmere.
Das ist Inklusion
- Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört. Egal wie man aussieht, welche Sprache man spricht oder ob man eine Behinderung hat
- Die zentrale Idee der Inklusion ist, dass Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang an gemeinsam in allen Lebensbereichen selbstbestimmt leben und zusammenleben
- Oberstes Ziel ist, dass Menschen mit Behinderung in den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten kommen (Quellen: Bayerisches Sozialministerium, Aktion Mensch)
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