Hält Jürgen Roth ein Knäuel Wolle in seinen Händen, einen feinen Wollstoff oder eine Wolldecke, macht ihm keiner etwas vor. Der 74-jährige Tirschenreuther weiß sofort, welche Wollart bei jeweiliger Verarbeitung im Spiel war. Nicht selten stammt die Wolle sogar aus seinem Handel. Zum Beispiel beliefert der Händler auch die Tuchfabrik Mehler.
Roths Passion zum Beruf ist allerdings längst nicht mehr alltäglich. Der Geschäftsmann ist einer der letzten Schafwolle-Händler Deutschlands und der einzige "Überlebende" seiner Branche in Bayern. Zu den Mehlers sind die Lieferwege für den Fachmann kurz. Er wohnt nahe der neuen Agentur für Arbeit, wo auch seine Lagerhalle ist. Schafe gibt es allerdings weit und breit keine zu sehen.
Besuch beim Schäfer
Roth fährt zu seinen wuscheligen "Mitarbeiter" hinaus. Voraussetzung ist aber, dass die Anfahrwege nicht zu weit sind. In Straubing arbeitete er mit einem Schäfer zusammen, der das wertvolle Merinoschaf züchtet. Erst vor einigen Wochen war er wieder bei Franz Vögerl, denn die Tiere würden immer im Herbst geschert.
Vögerl hat gut 1000 Schafe, das ergibt 3500 Kilogramm beste Merinowolle pro Jahr. Roth holt das Rohmaterial nach der Schur gemeinsam mit zwei Mitarbeitern und fährt es in eng zusammengepressten Ballen nach Belgien in eine Wäscherei.
Für die Kleinlieferanten habe er Sammelstellen eingerichtet. Eine sei in der Nähe von Regensburg, berichtet Roth aus seinem Arbeitsalltag. Denn er könne nicht alle einzeln bei geringeren Mengen extra anfahren. Dieser Alltag prägte das Leben von Jürgen Roth seit seiner Kindheit. Er erzählt von seinem Vater, Herbert Roth, der das Geschäfts vor dem Krieg in Reichenbach im Vogtland aufgebaut und bereits damals mit Mehler zusammengearbeitet hat.
Umfangreiche Ausbildung
1949 ist der Vater nach Tirschenreuth umgesiedelt. Der kleine Jürgen wuchs in die Aufgabe des Juniorchefs hinein, absolvierte eine umfangreiche Ausbildung in Bremen, dem größten deutschen Umschlagplatz für Wolle, in Belgien in einer Wollwäscherei und in England. "In Bradford wohnte ich auf einer großen Schafwollfarm", erzählt er. Roth zeigt auf ein Foto mit einem Herrenhaus, das einem kleinen Schloss gleicht. Schon als junger Unternehmer erweiterte er sein Geschäftsfeld, von Neuseeland und Australien bis Südamerika und Asien.
Als die Bekleidungsindustrie in Deutschland einbrach, hatten auch die Schafwolle-Händler zu kämpfen. Nur wenige blieben übrig, einer davon war Roth. "Wir haben uns an den Ostländern orientiert", erzählt er, wie sein Familienbetrieb überlebte. Seither beliefert er Kunden in Polen, Tschechien, aber auch in Österreich und Italien, wo die Wolle zu Teppichen, Decken, Loden, feinste Stoffe und anderes verarbeitet werden. Bei seinen Geschäften verlässt sich der 74-Jährige auf die Börse. Regelmäßig einmal pro Woche vergleicht er die Weltpreise, lässt die Märkte in Südamerika nicht aus den Augen.
Wo immer er seine Ware einkauft, wird sie zuerst in eine Wäscherei nach Belgien gebracht. Sauber gewaschen geht die Reise weiter zu den Produzenten wie die Tuchfabrik Mehler. "Jede Wolle ist anders", sagt Roth und zieht aus seinem Musterkoffer einige Sorten heraus. Weich müsse sie sein und gut riechen. Und sie dürfe nicht kratzen. Roth schwört auf Merinowolle, für ihn das Beste vom Besten.
Alpakawolle unrentabel
Dabei hänge die Wollqualität von vielen Komponenten ab, sagt der Fachmann und zählt einige Kriterien auf: "Wo lebt das Schaf? Was frisst es? Bekommt es Kraftfutter oder ist es den Sommer über auf der Weide?" Die Wolle eines gut gefütterten Schafes im Stall sei nicht automatisch hochwertig, plaudert Roth aus dem Nähkästchen und streichelt dabei über das kleine weiche Häuflein Merinowolle aus seinem Musterkoffer. "Wolle ist ein Naturprodukt, nachhaltig, biologisch abbaubar und mit nichts vergleichbar", gerät er ins Schwärmen. Als Gegensatz hat er stets ein Muster Polyesterwolle im Koffer. "Das hier, das verrottet 500 Jahre lang nicht", will er von der chemischen Faser nichts wissen.
Nicht überzeugen kann ihn auch der Modetrend Alpakawolle. Die sei unrentabel, wenn auch schön anzuschauen. Aber der Markt gebe zu wenig her und es sei äußerst schwierig, diese Tiere zu scheren. Dennoch hat Roth auch die Trends im Blick. In der Produktepalette ist Wolle begehrt als Dämmmaterial und zu Pellets verarbeitet zum Düngen. "Riechen Sie mal", sagt Roth schelmisch und hält ein kleines Päckchen offen. "Die Dinger sind gute Dünger, aber man sollte sie lieber nur im Garten verwenden. Sie sind äußerst geruchsintensiv", fügt er lachend an. Dann erzählt er von einem Freund, der die Pellets an seinen Zimmerpflanzen getestet habe. "Das war nicht auszuhalten."
Wie geht es weiter mit dem Wollhandel aus Tirschenreuth? Roth will keine Prognosen stellen. Noch kommen die Wollcontainer in Bremen aus Südamerika an, wo 10 000 Schafe in einem Betrieb keine Seltenheit sind. Noch lieben die Schäfer in Bayern ihren Beruf und kämpfen tapfer um ihren Stellenwert am Tuchmarkt. Noch ist es für ihn eine Freude, mit beiden Händen in das wuschelige Material zu greifen und sich über die Qualität zu freuen. Roth hängt an seinem Beruf, das ist sein Leben. Deshalb lasse er es laufen, solange es gut sei.
Seine Frau Christina hilft im Büro, wenn er auf Achse ist, unterwegs zu den Schäfern, um Proben zu nehmen oder um die nach der Wäsche veredelte Rohwolle bei den Wollproduzenten international anzupreisen. Roth ist einer der letzten "Sommeliers für Schafwolle", das ist seine Passion.
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