Erdbeben in der Türkei: Weidener Familie verliert zehn Angehörige

Weiden in der Oberpfalz
13.03.2023 - 11:29 Uhr
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Schreie aus den Trümmern, verspätete Hilfe, Verwesungsgeruch. Eine Familie aus Weiden verliert durch das Erdbeben in der Türkei zehn Verwandte und spricht mit Oberpfalz-Medien über das schreckliche Schicksal.

Seit Wochen kann Songül Sipero nicht mehr richtig schlafen. Die 50-Jährige lebt in Weiden, ist in ihren Gedanken aber bei den Verwandten in der Türkei. "Meine Familie erzählte mir, dass aus den Trümmern tagelang die Schreie der verschütteten Menschen zu hören waren", berichtet Sipero. Drückend und beißend beschreiben die Menschen vor Ort den Geruch der Leichen. Die Überlebenden schlafen in Autos oder in notdürftig umfunktionierten Bushaltestellen – seit über einem Monat. Ihre Angehörigen wohnen in der Region Hatay, am östlichen Eck des Mittelmeers, an der Grenze zu Syrien. Ein Gebiet, das durch das Erdbeben besonders hart getroffen wurde.

Die 26-jährige Tochter von Sipero möchte namentlich nicht genannt werden. Sie hat genau wie ihre Mutter täglich Kontakt zu den Verwandten. Ihr war das Ausmaß der Katastrophe am Tag des Erdbebens zunächst nicht bewusst. "Ich habe morgens auf meinem Handy gelesen, dass es in der Türkei ein Erdbeben gab", sagt die Tochter. Erst später erfuhr sie aus den Medien, dass die Heimatregion ihrer Familie betroffen sei. Sergül Sipero lebt mit ihrem Mann (53) seit ihrem 17. Lebensjahr in Deutschland, arbeitet bei einem großen Weidener Unternehmen. Auch ihre drei Kinder, die allesamt schon volljährig sind, wohnen hier. Der Rest der großen Familie lebt in der türkischen Region Hatay.

Schreie aus den Trümmern

In der Nacht des 6. Februars begann das erste Erdbeben. "Uns war nicht klar, dass die ganzen Häuser einfach so zusammenstürzen", sagt die Tochter. Gegen Mittag dann der zweite Schock: ein weiteres Beben, mit fast identischer Intensität. Was darauf folgte, waren Stunden des Hoffens und Wartens. Über Whatsapp konnte Songül niemanden erreichen, Anrufe waren nicht möglich. "Wir wussten nicht, ob unsere Familie unter den Trümmern liegt oder nicht. Es war der Horror." Im Laufe des Tages gingen die ersten Anrufe der Angehörigen aus der Türkei ein – von mehreren Verwandten fehle jede Spur. Ob sie aus ihren Häusern flüchten konnten oder unter den Trümmern vergraben waren, wusste niemand. Vor Ort versuchten die Menschen die Steine der zusammengestürzten Häuser wegzuräumen, in der Hoffnung verschüttete Menschen zu retten. Ohne Maschinen unmöglich.

"Am zweiten und dritten Tag hatten wir noch Hoffnung. Ab dem vierten Tag sagte unsere Tante am Telefon, wir bräuchten keine Hoffnung mehr haben. In der Stadt riecht es nur noch nach Tod und Verwesung", sagt die Tochter. Die Kinder einer Tante der Familie lagen vergraben unter den Resten eines zehnstöckigen Hauses. Aus jener Ruine hörte man die ersten zwei Tage noch die Schreie der Verschütteten. Dann sollen sie verstummt sein. Am dritten Tag kamen die ersten Hilfsorganisationen an. Fünf Bagger – für Tausende eingestürzte Häuser. Zuerst haben die Helfer vor Ort an den Gebäuden Hilfe geleistet, aus denen man noch Schreie hörte. Nach einer Woche wurden Siperos Angehörige tot aus den Trümmern geborgen. Auf den Grabsteinen stehen keine Namen – jeder Tote bekam nur eine Nummer.

Große Familie in der Türkei

Songül Sipero hat eine große Familie. Jedes Jahr besuchte sie mit ihren Kindern die Heimat, machte dort Urlaub. Songül selbst war noch drei Tage vor dem Beben bei den Verwandten in der Türkei. Zehn Angehörige hat die Familie durch das Erdbeben verloren, einigen Überlebenden mussten Körperteile amputiert werden. Unter den Toten: Cousinen und Cousins sowie deren Kinder. Auch Angehörige ihres Mannes sind unter den Opfern. "Wir fühlen uns hier schrecklich, wir würden gerne helfen – können aber nicht", sagt die Tochter. Eine Verwandte ist auf dem Weg nach Deutschland. Sie wird für eine Weile bei Familie Sipero in Weiden unterkommen. Dank der Turkish Airlines konnte sie gratis aus dem Erdbebengebiet nach Ankara fliegen. Den Flug ab Ankara nach Deutschland bezahlen die Siperos. "Ich würde gerne meiner ganzen Familie helfen, aber ich kann nicht für alle den Flug und die Kosten für den Pass und das Visum finanzieren. Ich würde so gerne, aber ich kann es einfach nicht."

Schleppende Aufräumarbeiten

Die Verwandten in der Türkei verbringen ihren Alltag einen Monat nach dem Beben noch immer auf der Straße oder im Auto. Immer wieder kommen Gutachter – erklären die noch stehenden Häuser für einsturzgefährdet, berichtet Sipero. Die Aufräumarbeiten laufen extrem schleppend. "Von unseren Leuten möchte auch niemand in die halb eingestürzten Häuser zurück." Zu groß sei die Angst der Menschen vor einem erneuten Beben. Hilfsgüter vor Ort: Fehlanzeige. Auch finanziell hapere es. Laut der Familie hegen viele Verwandte ein gewisses Misstrauen gegenüber den Banken in der Türkei. Erspartes und Wertanlagen wie Gold lagerten sie zu Hause. Auch diese Wertsachen haben die Trümmer unter sich begraben. Laut ihren Angehörigen vor Ort versuchen die Erdbebenopfer aus den Ruinen auch ihre Ersparnisse zu retten, meistens ohne Erfolg.

Arbeitskollegen, Verwandte, Bekannte und Freunde aus der ganzen Oberpfalz meldeten sich bei Sipero und ihrer Familie. Sie spendeten, boten Hilfe an. Von den Spendenkontos großer Organisationen halte sie nichts. "Wir wollen, dass das Geld dort ankommt, wo es gebraucht wird. Wir unterstützen unsere Familie vor Ort finanziell", sagt Sipero. Das klappe auch bis jetzt ganz gut. "Nachts liege ich aber wach und denke an meine Familie. Sind sie gerade draußen, ist ihnen kalt, haben sie Hunger?" Mit ihrer Tante hat sie täglich Kontakt, dieser gehe es psychisch sehr schlecht. Songül fragt sich, wie sich die Menschen dort je davon erholen sollen.

Hintergrund:

Erdbeben in Türkei & Syrien (Quelle: Reuters)

  • Beginn: Erstes Beben 6. Februar um 2.17 Uhr deutscher Zeit
  • Zweites Beben gegen Mittag, mit fast gleicher Intensität
  • Todesfälle: Mindestens 52.000 Menschen
  • Verletzte: Mindestens 119.000 Menschen
  • Geflüchtete Menschen: Mindestens 2,4 Millionen
  • Zerstörte Gebäude: Mindestens 200.000
 
 

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