Weiden in der Oberpfalz
15.01.2020 - 14:35 Uhr

"Osmanisches Luftschloss" auf Dauer gefährdet

Wissenschaftliche Orientexperten gibt es in Deutschland nur sehr wenige. Einer von ihnen referierte jetzt in Weiden über Hintergründe der heutigen politischen Lage in der Türkei.

Professor Peter Pawelka spricht im Martin-Schalling-Haus. Bild: Bühner
Professor Peter Pawelka spricht im Martin-Schalling-Haus.

Zu Beginn des Vortrags bedauerte Professor Peter Pawelka, dass in Deutschland viel zu selten umfassend und kompetent über die politische Situation in der Türkei berichtet werde. Sein Referat „Die osmanische Türkei: Orientalisches Krisenmanagement am Rande Europas“ sollte den Zuhörern genau diese Information bieten. Eingeladen hatte den Orient- und Türkeiexperten und emeritierten Professor aus Tübingen der Freundeskreis Weiden der Evangelischen Akademie Tutzing.

Gleich zu Beginn kritisierte Pawelka, dass bei vielen Deutschen das Bild über die Türkei durch die zugewanderten Gastarbeiter geprägt sei. „Dies war und ist eine fatale Fehleinschätzung.“ Die Zuwanderer seien aus unterentwickelten Landregionen gekommen und repräsentierten keineswegs die tatsächlichen Bevölkerungsstrukturen und die ehemalige Großmacht Osmanisches Reich. Noch immer präge dieser Großmachtgedanke sowohl das Selbstbildnis vieler Türken vom eigenen Land als auch die Strukturen der Gesellschaft. Als Elemente dieser Strukturen zählte Pawelka die bürokratische Herrschaft, die große Bedeutung der Religion, den extremen Nationalismus und die besondere Wertschätzung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit auf. Ein Trauma vom Untergang des Osmanischen Reiches führe zu einer Überreaktion bei jeglicher Gefahr.

Dann charakterisierte der Referent das aktuelle politische System in der Türkei und erklärte seine Entwicklung in jüngster Zeit. Unstrittig sei, dass es sich um eine autoritäre Herrschaft und keinesfalls um ein demokratisches Präsidialsystem etwa wie in Frankreich handele. „Das formale Präsidialsystem ist überlagert durch Klientelstrukturen“, sagte Pawelka. Der Präsident stehe im Zentrum, alle Institutionen um ihn herum seien ähnlich wie im Osmanischen Reich mit loyalen Personen besetzt. Berater des Präsidenten hätten mehr Einfluss als Minister. Das heutige politischen Systems sieht der Wissenschaftler durch drei Konflikte geprägt. Zunächst vom Elitenkonflikt zwischen Kemalisten, also Anhängern des Türkeigründers Atatürk, und einer religiös konservativen Gruppe „anatolischer Aufsteiger“, zu der auch die heute führende Regierungspartei AKP zählt. „Niemand hat vor zehn Jahren erwartet, dass es zur völligen Verdrängung der Kemalisten kommen wird“, sagte Pawelka. Spätestens nach dem missglückten Putsch im Jahr 2016 seien diese aus allen öffentlichen Ämtern und aus dem Militär verdrängt worden.

Der zweite prägende Konflikt sei ein Integrationskonflikt. Pawelka sprach von einer „Unzahl verschiedener Ethnien“ in der Türkei und nannte als Beispiel 12 bis 15 Millionen Kurden sowie 12 Millionen Aleviten. „Das orientalische Staatsverständnis anerkennt keine Minoritäten, die Macht hat der Staat“, sagte Pawelka. Schließlich hätten auch internationale Konflikte zur heutigen politischen Situation in der Türkei beigetragen. Der exportorientierte Wirtschaftsaufschwung sei durch den arabischen Frühling in Ländern des Nahen Ostens gebremst worden. Der „jahrhundertelange Gegenspieler Russland“ tauchte plötzlich in Syrien auf. Die Nato hätte die Türkei weitgehend alleingelassen. In Europa gebe es Antipathien gegen die Türkei aus Gründen der Islamfeindlichkeit und des Vorwurfs von Demokratiemangel. „Die Verschmelzung internationaler Isolation und innergesellschaftlicher Erosion manifestierte sich als existentielle Krise“. Als Konsequenz entwickelte sich die Machtkonzentration beim Präsidenten. Pawelka hält es für „unwahrscheinlich, dass ein so komplexer und international verflochtener Industriestaat durch eine Person auf Dauer regiert werden kann“. Und er erwartet deshalb, dass das „Osmanische Luftschloss sich in dieser Form nicht halten können wird“.

Professor Peter Pawelka spricht im Martin-Schalling-Haus. Bild: Bühner
Professor Peter Pawelka spricht im Martin-Schalling-Haus.
 
Kommentare

Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.

Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.

Zum Fortsetzen bitte

Sie sind bereits eingeloggt.

Um diesen Artikel lesen zu können, benötigen Sie ein OnetzPlus- oder E-Paper-Abo.