Über 40 Jahre Lebensretter am Telefon: Wolfgang Maier nimmt Abschied

Weiden in der Oberpfalz
14.06.2022 - 14:19 Uhr
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Dieser Maier hinterlässt eine echte Lücke. Und auch wenn sie irgendwann geschlossen wird, wird sie eine Weile klaffen. Der ILS-Disponent nimmt geballte Erfahrung mit in den Ruhestand. Von einem, der zigtausendmal am Telefon geholfen hat.

Wolfgang Maier (links) geht nach Jahrzehnten als Disponent der ILS Nordoberpfalz in den Ruhestand. Sein Chef Jürgen Meyer lässt den „Dinosaurier unserer Leitstelle“ nur schweren Herzens ziehen, denn mit dem Schichtleiter verliert die ILS geballte Erfahrung.

Da sitzt ein Mann jahraus, jahrein vor einem halben Dutzend Monitoren am Telefon. Mal tagsüber, mal nachts. Wer keine Ahnung hat vom Berufsbild des Pressathers Wolfgang Maier, Disponent und zuletzt Schichtleiter bei der Integrierten Leitstelle (ILS) Nordoberpfalz, könnte versucht sein, an einen Callcenter-Agenten zu denken. Doch der Unterschied könnte größer nicht sein. Denn bei Wolfgang Maier konnte es in den über 40 Jahren seiner Berufslaufbahn im Rettungsdienst jede Minute um Leben und Tod gehen. Und tatsächlich ging es nicht selten um Leben und Tod. Oft konnte Maier Leben retten, sehr oft. Er hat aber auch den Tod am Telefon miterlebt.

Wolfgang Maier (62) versucht gar nicht erst zu beziffern, wie viele Menschen er in all den Jahren am Telefon hatte. Er geht gern in den Ruhestand, vorzeitig, aber nicht etwa, weil er genug hätte von seinem Beruf, sondern weil er die Zeit gekommen sieht für einen neuen Lebensabschnitt nach erfüllten Berufsjahren. Und weil er sich ganz banal darauf freut, nicht mehr um halb fünf Uhr morgens aufstehen zu müssen.

Eines seien sie immer gewesen, die Jahre beim Roten Kreuz und bei der ILS: erfüllte Jahre, spannende Jahre, sagt er im Gespräch mit Oberpfalz-Medien. Jahre, in denen man an keinem einzigen Arbeitstag wusste, was auf einen zukommt. An einen langweiligen Tag erinnert er sich beim besten Willen nicht. Vielleicht einmal an eine halbe Stunde am Tag, in der nicht allzu viel passiert ist, aber auch solche halben Stunden waren eher selten.

Viele Menschen sind der Überzeugung, sie könnten nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben das berühmte Buch schreiben, das sogar gelesen würde. In aller Regel ein Irrglaube. Maier könnte dieses Buch tatsächlich schreiben und vermutlich würde es sich gut verkaufen. Aber da ist die Schweigepflicht, die es Menschen wie Maier verbietet, auch nur an die Veröffentlichung von Einzelheiten zu denken. So läuft auch die Frage nach schönen und schlimmen Fällen am Telefon weitgehend ins Leere, denn Maier kann kaum einen Fall so anonymisieren, dass die Anrufenden nicht zu identifizieren wären.

Maier kann aber erzählen von Tagen wie dem, an dem er drei Reanimationen am Telefon durchgeführt hat. Dreimal an einem Tag wildfremde Menschen anleiten, wie sie einen anderen wiederbeleben. An diesem Tag war auch der erfahrene Wolfgang Maier an seinen Grenzen angekommen. Zwei der Wiederbelebten haben immerhin dauerhaft überlebt. Das Beispiel zeigt, dass bei der ILS eben keine Callcenter-Agenten sitzen, sondern Profis mit einschlägiger Ausbildung. Maier ist gelernter Rettungssanitäter mit diversen Zusatzausbildungen unter anderem im Feuerwehrwesen. Dabei war er zunächst Verkäufer, der aber schon sehr früh seine Leidenschaft für das Rettungswesen entdeckt hat.

Bei aller umfangreichen Ausbildung, die ein ILS-Disponent haben muss, nicht alles lässt sich lernen: Empathie, Menschlichkeit, sprachliches Ausdrucksvermögen und auch eine gehörige Portion Alltagspsychologie. Wie sonst wäre man in der Lage, bei einer Dame, die mehrmals am Tag anrief, nur um sich zu unterhalten, herauszuhören, dass es ihr an einem Tag tatsächlich nicht gut ging; die Frau konnte rechtzeitig mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus gebracht werden.

Eines hat sich deutlich geändert in all den Jahren, erinnert sich Maier: Während früher nicht einmal bei einer Wirtshausschlägerei jemand auf den Gedanken gekommen wäre, einen Notruf zu tätigen, wird heute die „112“ gewählt, wenn man einen Karton auf der Straße liegen sieht. Könnte man vielleicht auch selbst von der Straße nehmen, aber schneller ist der Notruf gewählt.

Und so sehr Smartphones Leben retten können, beschäftigen sie vor allem im Sommer Männer und Frauen wie Wolfgang Maier unnötig, nämlich dann, wenn sie ohne Wissens ihrer Besitzer den Notruf auslösen. „Hosentaschenanrufe“ nennen das die Profis der ILS, die dann unfreiwillig Zeugen werden auch von nicht jugendfreien Begegnungen. Weil aber im Gegensatz zu früher auch die Klagefreudigkeit der Bevölkerung stark zugenommen hat, muss jeder Anruf akribisch dokumentiert werden. Und so muss sich ein Disponent wie Maier es war, sich durch einen Rückruf versichern, dass alles in Ordnung ist. Das kann dann auch einmal peinlich werden, aber der Rückruf darf ausschließlich dann unterbleiben, wenn der Disponent sich hundertprozentig sicher ist, dass am anderen Ende keine Gefahr besteht. Nicht immer ist Stöhnen und Stöhnen mit absoluter Sicherheit zu unterscheiden.

Hintergrund:

Die Integrierte Leitstelle Nordoberpfalz

  • Etwa 350 Anrufe täglich, aus denen etwa 200 Einsätze entstehen
  • Etwa 11.000 Ereignisse im Monat
  • Zuständig für knapp 2600 Quadratkilometer Gebietsfläche in der Stadt Weiden und den Landkreisen Neustadt/WN und Tirschenreuth, das sind rund 210.000 Einwohner (Quelle: ILS Nordoberpfalz)
 
 

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