Es sind die Jahre des Vergessens, die manches beschönigen, was einst grausam über ein Menschenleben hereinbrach. Auch Bildhauer und Buchautor Hatto Zeidler kann inzwischen sein Schicksal gnädig betrachten. "Nach 70 Jahren glätten sich die Wogen", sagt er, als er am Samstagabend im Berufsschulzentrum von der Flucht seiner Familie aus dem Egerland erzählt. Der in Saaz an der Eger (heute Zatec) geborene Dozent an der pädagogischen Hochschule Heidelberg hat seine eigene Kindheit in 59 Episoden im Buch "Das Kanuhaus" zusammengefasst.
Hatto Zeidler war erst sechs Jahre alt, als die Familie nach Eberbach fliehen musste. Die Lesung beginnt er mit der ersten Begegnung mit dem Vater, der sich im Krieg in Russland befand, als Hatto ein Kleinkind war. Dann kam der Vater nach Hause, kaufte einen Pferdewagen und sagte der Familie, dass sie aus Saaz sofort weg müssten. "Die Großeltern blieben und wir dachten, wir kämen in drei Wochen wieder zurück", so Hatto Zeidler. Was keiner ahnte: "Ich kam ein Leben lang nicht mehr nach Saaz." Die Familie zog weiter und teils wieder zurück, bis sie in Eberbach strandete.
Die Kindheitserinnerungen des Heidelbergers gehen ans Herz, ob es sich um die kleinen Schätze eines Buben handelt oder darum, dass der Familie sämtliche Schuhe gestohlen wurden. Nur dem Zufall war es zu verdanken, dass die Eltern mit den fünf Kindern im "Kanuhaus", einem Vereinsheim, unterkamen. Ohne Licht, ohne Wasser, ohne geregeltes Essen lebten sie drei Jahre lang in diesem Holzschuppen. "Da kam auch meine kleine Schwester zur Welt", erzählt Zeidler den äußerst gespannten Zuhörern.
Der Hunger sei oft groß geworden, so dass der Vater auf "Hamsterfahrt" gehen musste für Kartoffeln. "In der Nachkriegszeit waren Zigaretten die beste Währung", erzählt der Autor, was der Vater eingetauscht hat für Essen. Und er berichtet, dass die Äpfel auf den Bäumen bewacht worden sind, damit sie nicht gestohlen wurden. Das Unglück nahm fast seinen Lauf, als das Pferd Minka die gehamsterten Kartoffeln fraß und Koliken bekam. Das wertvolle Tier konnte gerettet werden.
Wenig später war Hatto selbst in Lebensgefahr. Er wäre beinahe wegen eines in den Neckar gefallenen Fußballs ertrunken. Kind und Ball konnten gerettet werden - alles gut, Ende gut. Hier schließt Hatto Zeidler seine Lesung. Dabei hätte das Publikum gerne weiter zugehört. Aber die Zeit drängt und in der Dreifachturnhalle beginnt bereits der Heimatabend. Erich Tahedl, Vizepräsident des Bayerischen Kulturbundes, will dennoch schnell gratulieren zum Leseabend und bedankt sich bei Hatto Zeidler mit Geschenken aus Wiesau.
Wiesau
09.07.2018 - 14:31 Uhr
Hungrige Mägen und bewachte Äpfel
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