Nürnberg
12.12.2019 - 23:38 Uhr

Der Videobeweis unter der Lupe: "Nach wie vor ist die Verunsicherung groß"

Er ist ständiger Begleiter in den Profi-Arenen dieses Landes - der Videobeweis. Er hat das Spiel sehr verändert. Das sagt auch ein Schiedsrichter aus Nürnberg, der sich den Video Assistant Referee (VAR) ganz genau angeschaut hat.

Schiedsrichter Gerd Lamatsch ist seit 44 Jahren auf den Fußballplätzen unterwegs. Jetzt hat er ein Buch über den Videobeweis geschrieben. Bild: exb
Schiedsrichter Gerd Lamatsch ist seit 44 Jahren auf den Fußballplätzen unterwegs. Jetzt hat er ein Buch über den Videobeweis geschrieben.

Gerd Lamatsch kann nicht genug kriegen. "Ich pfeife, was ich kriegen kann", sagt der 60-Jährige lächelnd. Seit 44 Jahren ist er als Unparteiischer unterwegs. Früher auch als Assistent in der 2. Bundesliga und als Referee in der Regional- und Bayernliga. Heute pfeift er auch schon mal ein C-Junioren-Spiel oder der Mann vom TB 1888 Nürnberg ist als Schiedsrichter im Sulzbacher Land, etwa in Illschwang oder Schwend, unterwegs. Der große Fußball interessiert ihn aber immer noch sehr und Lamatsch hat in detaillierter Weise die Einführung des Videobeweises dokumentiert und macht in seinem Buch "Keller-Schiri - Der Weg zum Videobeweis" auch Vorschläge, um das neue Stilmittel im Fußball, das für so viele Diskussionen sorgt, zu verbessern.

ONETZ: Ist das nur so ein Gefühl oder haben sich die Diskussionen um den Videoassistenten etwas beruhigt?

Gerd Lamatsch: Die Diskussionen sind nicht wirklich weniger geworden. Ich stelle fest, dass es nahezu wöchentlich Beschwerden gibt. Nach wie vor ist die Verunsicherung groß. Es hat sich nicht wesentlich verbessert.

ONETZ: Wurde das System des Videoassistenten vielleicht zu schnell eingeführt?

Gerd Lamatsch: Ich weiß, dass es im Vorfeld ein, zwei Jahre Trockenversuche gab. Es wurde hinter den Kulissen intensiv geübt. Es gab diverse Kinderkrankheiten da: Technische Probleme, Abstimmungsprobleme, Kommunikationsprobleme. In der Summe hat man einige Themen unterschätzt. Und jetzt stellt man auch fest, dass die emotionale Akzeptanz bei vielen nicht da ist. Das ist schade, weil es die Fußballwelt spaltet.

ONETZ: Zweifeln Sie mittlerweile etwas am Videobeweis?

Gerd Lamatsch: Ich war von Anfang an in der Theorie ganz klar für den Videobeweis. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es solche Probleme gibt, aber diese stellt man erst in der Praxis fest.

ONETZ: Heißt das, Sie stehen nicht mehr voll dahinter?

Gerd Lamatsch: Doch, doch, ich bin grundsätzlich dafür. Auch die Zahlen sprechen eindeutig dafür. Vielleicht sollte man bestimmte Punkte überarbeiten, um auch der anderen Seite gerecht zu werden, um auch die Emotionalität wieder zurückzubringen. Aber wir werden den Videobeweis nicht mehr gänzlich aufgeben. Da wurde mittlerweile auch schon viel Geld investiert. Das jetzige System ist einfach überreizt, man müsste es nur besser justieren.

ONETZ: Einige wollen dennoch, dass der Videobeweis wieder abgeschafft wird ...

Gerd Lamatsch: Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der sagt, wir leben wieder mit den Fehlentscheidungen der Schiedsrichter. Das kann man niemanden mehr verkaufen. Wie gesagt, ich glaube eher an eine Modifizierung des Systems.

ONETZ: Was wären Ihre Vorschläge?

Gerd Lamatsch: Es gäbe da schon zwei, drei Stellschrauben: Ein Vorschlag wäre, die Anzahl der Eingriffe durch den Videoassistenten zu verringern. Zum Beispiel das Ganze zeitlich zu limitieren. Da ist die Frage, wie weit gehe ich im Spielgeschehen zurück, um einzugreifen. Oder man könnte auch die Fläche eingrenzen: Das heißt beispielsweise, Dinge, die in des Gegners Hälfte passieren, werden nicht noch einmal überprüft.

ONETZ: Ein Vorschlag in Ihrem Buch bezieht sich auf die stärkere Einbeziehung der beiden Mannschaften ...

Gerd Lamatsch: Ja, das wäre sinnvoll. Die beiden Mannschaften sind bisher außen vor. Wir haben bisher ein in sich geschlossenes System zwischen Hauptschiedsrichter und Videoschiedsrichter. Die Mannschaften sind derzeit ohnmächtig.

ONETZ: Da kommt jetzt die Möglichkeit einer Challenge wie beim Tennis ins Spiel. Mannschaften können von sich aus eine Szene begutachten lassen ...

Gerd Lamatsch: Die Fifa hat dieses System ja von vorneherein schon ausgeschlossen, was natürlich schade ist. Warum gibt man beispielsweise jeder Mannschaft pro Spiel nicht zwei Möglichkeiten, um einzugreifen und eine Szene überprüfen zu lassen. Die Mannschaften würden sich ganz genau überlegen, wann sie eingreifen, und sie würden nicht irgendeinen Blödsinn machen.

ONETZ: Es scheint manchmal so, als gäbe es ein Kompetenzgerangel zwischen Hauptschiedsrichter und Videoassistenten ...

Gerd Lamatsch: Wenn es eine Videoüberprüfung gibt, muss sich der Hauptschiedsrichter das immer selbst nochmal anschauen. Es kann nicht sein, dass der Videoassistent sagt, ich habe das anders gesehen, verlasse dich darauf. Der Hauptschiedsrichter hat die erste Entscheidung getroffen, er ist der letztlich Verantwortliche.

ONETZ: Finden Sie nicht auch, dass der DFB bei alledem keine gute Figur macht?

Gerd Lamatsch: Ich vermisse bei der ganzen Thematik, dass der DFB bei den ganzen Diskussionen stärker Flagge zeigt. Wenn darüber in Sendungen diskutiert wird, ist selten ein Verbandsvertreter dabei. Es muss das Interesse der Verbände sein, Stellung zu beziehen und so mancher Thematik von vorneherein schon den Wind aus den Segeln zu nehmen.

ONETZ: Mal ehrlich, wird der Fußball durch den Videobeweis wirklich gerechter?

Gerg Lamatsch: Was ist gerecht? Das ist Definitionssache. Ich sage aus Schiedsrichtersicht: Wenn ich von drei Fehlentscheidungen zwei vermeiden kann, dann ist der Fußball gerechter geworden. Der Philosoph sagt aber, auch nur eine Fehlentscheidung führt zu einem ungerechten Ergebnis. Da kann man jetzt leidenschaftlich darüber diskutieren. Ich denke, das Wichtigste ist, die ganz krassen Dinge auszumerzen. Aber es wird freilich immer wieder Diskussionen geben.

ONETZ: Sie pfeifen selber noch. Wäre das was für Sie im Profibereich, wenn immer der Videoassistent auf dem Platz mitrumgeistert?

Gerd Lamatsch: Als Schiedsrichter auf dem Platz würde mir das weniger ausmachen. Aber ich hätte ganz sicherlich keinen Spaß daran, im Keller zu sitzen und das zu beobachten. Wenn man begeisterter Schiri ist, will man im Hexenkessel stehen.

ONETZ: Im Videobeweis steckt soviel Interessantes und Brisantes. Da wirds doch sicherlich noch weitere Kapitel in Ihrem Buch geben?

Gerd Lamatsch: Ich kann das nur bestätigen. Ich sammle jetzt schon den Stoff für die zweite Auflage. Nach der laufenden Saison kann ich mir vorstellen, ein Update zu machen.

 
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