Von Andreas Allacher
Große Emotionen in der Münchner Allianz-Arena: Der FC Bayern ist gegen den FC Köln lange in Rückstand, ehe Joshua Kimmich in der 90. Minute mit einem Weitschuss zum 1:1-Ausgleich die Fans erlöst und dem Rekordmeister wenigstens einen Punkt rettet. Trotz des engen Spielstandes ist Schiedsrichter Tobias Stieler, der vergangenes Wochenende mit zwei Strafstößen gegen die Nagelsmann-Elf in Leverkusen Schlagzeilen machte, kaum mit kniffligen Entscheidungen konfrontiert. Die wenige Kritik von den Rängen steckt der Hamburger Fifa-Referee problemlos weg. Die Meinung eines der 75 000 Zuschauer aber ist ihm wichtig: Karl-Heinz Schleier aus Weiden ist an diesem Tag der Schiedsrichter-Beobachter. Genauso wie Schiedsrichterassistent Christian Gittelmann, der zum 150. Mal in der Bundesliga an der Linie steht, ist dieses Spiel für Schleier ein besonderes – nämlich seine 1600. Beobachtung insgesamt. Diese beiden kleinen Jubiläen würdigte der FC Bayern mit einem persönlich beflockten Trikot.
Die Zahl von 1600 Beobachtungen hat Karl-Heinz Schleier in 25 Jahren abgearbeitet – das heißt im Schnitt 64 Spiele pro Saison von der 1. Bundesliga bis in die Kreisliga. Basis dafür war seine eigene Karriere, die ihn an der Pfeife bis in die Regionalliga (in den 90er Jahren dritte Spielebene) und mit der Fahne bis in den Weltfußballverband Fifa führte; unter anderem mit Markus Merk und Bernd Heynemann stand er bei internationalen Spielen an der Linie. Nach einem krankheitsbedingt verpatzten Leistungstest wollte er sich im Jahr 1998 eigentlich eine Pause gönnen, die jedoch nicht lange dauerte. Der damals in Bayern für das Beobachtungswesen zuständige Werner Roß (Ingolstadt) überzeugte Schleier vom Einstieg in diesen zweiten Karriereweg, auf dem er es weit nach oben schaffte: mit fundiertem Fachwissen, prägnanten Analysen und dem stetigen Streben, die Leistungen der ihm zugeteilten Schiedsrichter weiter zu optimieren. Von Anfang an wurde Karl-Heinz Schleier in der Landesliga eingesetzt. „In meinem siebten Einsatz überhaupt bei FC Linde Schwandorf gegen SV Hutthurm hieß der Schiedsrichter Deniz Aytekin“, erinnert er sich schmunzelnd. Seit 2014 beobachtet der Weidener bis in die Bundesliga und ist einer von fünf Coaches für die Zweitliga-Schiedsrichter.
Trend zum Coaching
Vom Beobachter zum Coach – Bild und Aufgabenstellung des Mannes am Spielfeldrand haben sich in dem Vierteljahrhundert, in dem Schleier dieser Aufgabe im Schiedsrichterwesen nachgeht, grundlegend gewandelt. Früher oft der große Unbekannte, war der Beobachter lange nur der kritische Bewerter der Schiedsrichterleistung. „Nur auf dem Bogen das Wort Beobachter durchzustreichen und Coach drüberzuschreiben, reicht freilich nicht“, sagt der 64-Jährige, den es freut, dass auch im Amateurbereich der Trend immer mehr zum Coaching geht. Denn der Coach soll mehr ins Detail gehen, zusammen mit dem Schiedsrichter die Gründe möglicher Fehlentscheidungen analysieren und Optimierungsbereiche aufzeigen.
Im Profibereich gibt es explizit beide Rollen, teilweise auch in Personalunion: Der Beobachter erstellt einen „Technischen Report“, in dem die Schiedsrichterleistung in einzelnen Rubriken abgearbeitet wird. Auf dieser Basis und in Rücksprache mit dem Beobachter plus der Fernsehbilder sucht der Coach – wie Schleier in der 2. Liga – dann das Gespräch mit dem Unparteiischen, immer mit dem Ziel, die Leistung des Einzelnen zu verbessern. Dies sei gerade im Profibereich, wo es seit Jahren den Druck eines zwangsläufigen Abstiegs aufgrund eines Rankings in der jeweiligen Liga nicht mehr gibt und die Schiedsrichterleistung seit dieser Saison auch nicht mehr bepunktet wird, viel wichtiger als die Bewertung von Einzelentscheidungen.
Ehrenmitglied der Gruppe Weiden
Karl-Heinz Schleier, der 1975 die Schiedsrichterprüfung abgelegt hat und seit einigen Jahren Ehrenmitglied der Gruppe Weiden ist, erläutert diese Arbeit eines Coaches am Beispiel eines Kellerduells in der 2. Liga, in dem eher Kampf und Härte denn spielerische Leckerbissen zu erwarten waren. Darauf müsse sich der Schiedsrichter im Vorfeld einstellen. Eine eher kleinliche Linie wirkt bei solchen Spielen deeskalierend. Für den Coach sei es wichtig zu erkennen, ob der Schiedsrichter einen Matchplan hat. Und ob er diesen Matchplan anpasst, wenn er nach einiger Spielzeit feststellt, dass die Mannschaften doch mit spielerischen Mitteln den Erfolg suchen.
Jeder der Coaches einer DFB-Liga hat ein besonderes Auge auf mehrere Schiedsrichter; einmal pro Woche tauschen sich alle Coaches über die Leistungen und Erfahrungen des vergangenen Spieltags aus. So entsteht im Laufe der Saison ein klares Leistungsbild, so dass am Ende die Arbeit des Coachingteams eine gute Basis für die Qualifikationsentscheidungen der sportlichen Leitung ist. Letztlich sollen junge Referees auf einen guten Weg und eine einheitliche Linie gebracht werden, so dass sie irgendwann die heutigen Spitzenschiedsrichter der Bundesliga ersetzen können, erläutert Schleier, der sich seit vielen Jahren auch auf Bezirksebene in die Nachwuchsförderung und die Beobachter-Fortbildung einbringt. Im Amateurbereich freilich gibt es weiter Bewertungsnoten. Denn hier ist es auch eines der Ziele des Beobachtungswesens, zielsicher die Talente herauszufiltern, die das Zeug für ganz oben haben.
Tribünenplatz zu weit weg
Rund zehn Tage vor dem Spiel beginnt für den Beobachter bzw. Coach der Spieleinsatz mit der vorläufigen Einteilung. Die namentliche Zuteilung des Schiedsrichterteams erfolgt zwei Tage vor der Partie; es folgt eine telefonische Kontaktaufnahme zwischen Referee und Beobachter. Zum persönlichen Treffen kommt es in der Schiedsrichterkabine des Stadions maximal zwei Stunden vor dem Anstoß. Natürlich ist für den Beobachter ein Tribünenplatz reserviert, den Schleier aber oft gar nicht nutzt, weil dieser zu weit weg ist von den Fernsehteams. Denn bisweilen ist ein kurzer Weg, um sich eine strittige Szene noch einmal anschauen zu können, sehr wichtig für die Beurteilung.
Als Beispiel nennt Schleier das Regensburger Jahnstadion, wo der eigentliche Beobachterplatz auf der Haupttribüne und der Kamerastandort gegenüber ist. Nach dem Spiel erhält der Beobachter zwar bestes Videomaterials, auch mit der Tonspur, um die Kommunikation im Schiedsrichterteam und mit dem Kölner Keller nachvollziehen zu können; im Stadion und damit also auch für das bis zu 20-minütige Coaching-Gespräch im Anschluss an das Spiel ist der Beobachter auf seine Wahrnehmung angewiesen. Wer hierbei in der Kabine hitzige Diskussionen erwartet, liegt falsch. „Zu 95 Prozent haben Schiedsrichterteam und Beobachter das gleiche Spiel gesehen“, sagt Schleier. Dabei unterstreicht der erfahrene Beobachter aber auch die Bedeutung der Wirkung einer Entscheidung auf die Fans – gerade im Profibereich: „Besser eine umstrittene Entscheidung gut verkaufen als eine richtige schlecht.“
Transparenz wichtig
Apropos Außenwirkung: Positiv sieht Karl-Heinz Schleier die Versuche bei der Fifa-Klub-WM, die Eingriffe des Videoassistenten für die Zuschauer im Stadion transparenter zu machen. Grundsätzlich habe der VAR-Einsatz die Arbeit der Kollegen am Platz verändert, insbesondere der Linienrichter. Der Kölner Keller soll aber von der Grundidee nur eingreifen, um klare Fehlentscheidungen zu verhindern – und zwar in den vier Bereichen Torerzielung, Feldverweis auf Dauer, Strafstoß und Spielerverwechslung. „Grundsätzlich bleibt es das Ziel, dass möglichst viele Entscheidungen möglichst richtig am Feld getroffen werden“, erklärt Schleier.
Mit Interesse verfolgt Schleier auch die von Ex-Bundesliga-Schiedsrichter Manuel Gräfe losgetretene Diskussion um die Altersgrenze in der Bundesliga, die eigentlich nirgends festgeschrieben ist, aber dennoch seit vielen Jahren das stärkste Regulativ für die Schiedsrichter der 2. Liga ist, um in das Oberhaus nachrücken zu können. Fällt diese Altersgrenze, so der Weidener, müsste man wieder vermehrt auf das Leistungsprinzip setzen, was eine stärkere Motivation für die Schiedsrichter in den Spielklassen unter der Bundesliga wäre und letztlich auch die Rolle der Beobachter und Coaches stärken würde. Auch für den Amateurbereich, wo er den Bayerischen Verbandsschiedsrichterausschuss auf einem guten Weg sieht, hat Schleier einen Wunsch. „Schiedsrichter und Beobachter sitzen doch in einem Boot und rudern auch in die gleiche Richtung“, sagt er und hofft, dass gerade einige junge Unparteiische ihre Leistungen etwas selbstkritischer betrachten. Denn ohne die Fähigkeit zur Selbstkritik würde sich „auf Dauer keiner durchsetzen“.
Zur Person: Karl-Heinz Schleier
- Geboren am 27. Februar 1959 in Zirndorf
- Früher Schiedsrichter bis zur Regionalliga; Assistent in der Bundesliga, 2. Bundesliga und bei Fifa-Spielen
- Seit rund 25 Jahren Beobachter und Coach im Schiedsrichterwesen
- Insgesamt 1600. Beobachtung beim Bundesligaspiel FC Bayern gegen 1. FC Köln
- Ehrenmitglied bei der Schiedsrichtergruppe Weiden
Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.
Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.