ONETZ: Frau Schleicher, Hartz IV-Kritiker sagen, die brummende Wirtschaft schafft Arbeitsplätze, nicht die Arbeitsmarktreformen von damals – allerdings auch viele prekäre.
Es gab vor Hartz IV auch schon Hartz I bis III – und auch prekäre Arbeitsverhältnisse. Es ist aber richtig, wir haben einen stabilen Arbeitsmarkt, deshalb kamen viele unter.
ONETZ: Rund 77 Prozent der ALG 2-Empfänger verbleiben länger als ein Jahr, 60 Prozent länger als zwei Jahre und rund ein Sechstel langfristig im System. Die Hoffnung, mit Hartz IV schnell wieder in reguläre Arbeit zu kommen, hat sich demnach nicht erfüllt?
2005 war die Grundidee Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in einem System zusammenzufassen. Die unterschiedlichen Sätze und Freibeträge waren unlogisch. Positiv war, dass dadurch das Know-how in puncto Betreuung, Vermittlung und Kontakten allen zur Verfügung gestellt wurde. Dass den Jobcentern die gleiche Qualifizierungspalette zur Verfügung steht wie der Agentur, hat vielen geholfen. Man kann über vieles diskutieren, das zu kompliziert, zu komplex ist, gerade was die Leistungen betrifft. Man sollte da auch einmal Pauschalen zuzulassen.
ONETZ: 3,2 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit 5,9 Millionen Personen sind derzeit ALG 2 bzw. Sozialgeld-Empfänger. Bei den 1.688.452 Millionen Sozialgeld-Empfängern handelt es sich in der Regel um deren Kinder – Zahl steigend, wohl auch wegen der schwierigen Lage der Alleinerziehenden. Die Zahlen sind seit Jahren stabil: Wird hier nicht die Grundlage so genannter Hartz-IV-Karrieren gelegt?
Wenn jemand länger als zwei Jahre Leistungsbezug erhält, heißt das nicht, dass er arbeitslos sein muss. Auch Migranten haben, wenn sie anerkannt sind, Anrecht auf Leistung. Sie absolvieren einen Integrationskurs, einen Sprachkurs – bei der Qualifizierung sind zwei Jahre um wie nichts. Sehr viele von ihnen haben inzwischen Arbeit. Bei uns im Jobcenter hatten wir bis 2015 eine sinkende Zahl von Kindern, danach stieg sie an. Das Thema Alleinerziehende ist be- und erkannt. Wir haben hier seit 2012 das Sonderprogramm KAJAK – „Kombinierte Integrationsbemühungen für Alleinerziehende und Jugendliche in Arbeit und Ausbildung ergänzt durch Kinderbetreuung" – mit einer Komplettbetreuung. Wenn jemand bei uns im Bezug ist, wird Kinderbetreuung bezahlt. Es gibt Angebote der Elternschule, des Sozialdiensts katholischer Frauen, wir fragen, wie‘s mit Nachbarschaftshilfe oder Unterstützung durch andere Eltern im Kindergarten ausschaut. Ganz in Griff wird man das Problem nie bekommen, aber wir versuchen immer, Lösungen zu finden.
ONETZ: Die Grundsicherung (416 Euro Erwachsene, bei Paaren je Partner 374, Erwachsene im Haushalt der Eltern 332, Kinder 14-17 316, Kinder 6-13 296. Kinder 0-5 240 Sozialgeld) stellt trotz einiger Zuschüsse (100 Euro/Jahr Schulgeld) die gesellschaftliche und kulturelle Integration in Frage. Konterkariert das nicht das Ziel, Menschen in geregelte Verhältnisse zu integrieren – Kontakte erhöhen doch Chancen auf dem Arbeitsmarkt?!
Das ist die Regelleistung, die Miet- und Heizkosten kommen dazu – angepasst an die Örtlichkeiten. Das Geld ist so bemessen, dass ein Alleinstehender damit überleben kann, aber mit Annehmlichkeiten wird‘s knapp. Ob Zeitung, Kino, Kneipe, Café – das kann man sich kaum leisten. Aber man muss das auch in Relation zu einem Arbeitnehmer setzen, der den Mindestlohn von 8,84 Euro bekommt. Dem bleiben nach Abzug der Steuer und Sozialversicherung rund 900 Euro – und davon muss er noch Miete zahlen. Es gibt außerdem Bildungs- und Teilhabeleistungen. Die 100 Euro im Jahr sind eindeutig zu wenig, man denkt über eine Erhöhung nach. Bezuschusst wird das Mittagessen in Schulen und ein Vereinsbeitrag, komplett bezahlt werden schulische Ausflugsfahrten. Die Crux: Wir versuchen seit Jahren, die Eltern darauf aufmerksam zu machen – es läuft ins Leere. Wir haben da nur eine Quote von 50 Prozent, die das in Anspruch nehmen.
ONETZ: Woran kann das liegen?
Vielleicht an einer Überforderung, wenn sie immer und immer wieder etwas beantragen müssen.
ONETZ: Wurden durch den Abbau der doppelten Struktur nicht Kosten gespart, die man den Bedarfsempfängern zukommen lassen könnte?
Das würde mich auch interessieren, aber ich komme an die Zahlen nicht ran. Die Schwierigkeit eines Jobcenters: Ich habe drei Chefs – mit dem Landkreis und der Stadt zwei kommunale Träger und die Agentur. Die Agentur hat uns Aufgaben übertragen, zu deren Durchführung und Umsetzung hat der Bund die oberste Aufsicht; die Kommunen haben uns ebenso Aufgaben übertragen, hier hat das Land Bayern die oberste Aufsicht. Dann gibt es noch Jobcenter, die ausschließlich unter kommunaler Aufsicht geführt werden (die so genannten Optionskommunen). Hier hat nur das jeweilige Bundesland die oberste Aufsicht. Das führt zu skurrilen Ergebnissen, wie aktuell beim bayerischen Familiengeld. Man wird dazu die höchstrichterliche Rechtsprechung abwarten müssen.
ONETZ: Im Jahresschnitt werden rund 750.000 Sanktionen ausgesprochen (3,2 Prozent der Empfänger). Meldeversäumnisse werden über drei Monate mit 10 % weniger, ein Verstoß gegen Verhaltenspflichten (30 % beim ersten Mal), mehrere Verstöße bis 100 %, bei unter 25-Jährigen wird schon der erste Verstoß bis 100 %, der zweite Verstoß sogar inklusive Miete geahndet. Dadurch soll der Druck auf junge Menschen, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen – auch schlecht dotierten Stellen – erhöht werden. Viele Versäumnisse sollen im August und September als Folge von Urlaubsabsenzen auftreten. Hinzukommt, dass in Deutschland aufgrund von Ermessensspielräumen sehr unterschiedlich sanktioniert werde und sozialstrukturell ungleich – Unqualifizierte sind überproportional häufig betroffen. Es gibt Zweifel an der Grundgesetz-Konformität dieser Sanktionen, zumal eine Grundsicherung ohnehin nur das Überleben sichern soll. Welche Erfahrungen haben Sie damit?
Wir hatten im Juli 92 Sanktionen bei 3400 Erwerbsberechtigten, also 2,7 Prozent. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 1107. Die Zahlen sind rückläufig. Das gleiche gibt‘s im SGB 3 bei der Agentur mit schlimmeren Folgen – mit einer Sperrzeit von drei Monaten, die nicht hinten angehängt wird. Und das bei einer Versicherungsleistung. Bei der 100-Prozent-Sanktion gibt‘s bei uns immerhin noch einen Lebensmittelgutschein, bei der Agentur nicht. Es gibt sicher auch welche, die sehr hart sanktionieren, das Augenmaß nicht nutzen. Man hat einen gewissen Ermessensspielraum: Wer sich wegen eines versäumten Termins entschuldigt, weil er krank war oder den Bus versäumt hat, wird nicht sanktioniert – beim zehnten Mal ist das natürlich nicht mehr glaubwürdig.
ONETZ: Spielen da nicht auch Depressionen eine gewisse Rolle?
Wir haben Fachdienste, die wir einschalten. Unsere Mitarbeiter sind geschult, man bekommt einen Blick dafür und versucht zu helfen. Wir haben aber auch das Phänomen bei den Jungen unter 25, dass sie im Hotel Mama bleiben. Da braucht es manchmal 10 bis 20 Einladungen bis einer kommt. Insgesamt haben wir 408 Erwerbsfähige unter 25. Davon sind 10 Prozent aus den unterschiedlichsten Gründen kaum zu erreichen.
ONETZ: Warum zum Beispiel?
Drogen etwa. Wir können dann eine Einzelbetreuung extern ermöglichen, eine aufsuchende Sozialarbeit, um die Betroffenen wieder ans Leben und Arbeitsleben heranzuführen. Aber der Jugendliche muss selbst wollen. Den einzigen Druck, den wir haben, ist die Sanktion. Wir machen seit 2005 die Erfahrung, dass Sanktionen über den finanziellen Entzug nicht ausschlaggebend sind. Die Jungen finanzieren sich dann anders. Wenn man aber die Sanktionen komplett streicht, nimmt man sich ein wichtiges Mittel, um positiven Druck auszuüben.
ONETZ: Die Arbeitsmarktreformen werden oft als Grundlage des kleinen deutschen Wirtschaftswunders nach Rot-Grün gefeiert. Prof. Jens Lüdtke vom Institut für Sozialwissenschaften der Uni Augsburg macht für den Rückgang der Arbeitslosigkeit aber weniger das Hartz-IV-Regime verantwortlich als vielmehr die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Situation, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse (Orte, Zeiten) sowie die grundlegende Änderung der Arbeitsorganisation und Entstehung atypischer Arbeitsverhältnisse wie auch Leih- und Zeitarbeit als ein Instrument. Wie beurteilen Sie die Wirkung?
Schon bei Hartz II öffnete man die Tür für die Zeitarbeit. Aber auch sie hat Tarifverträge und sie ist nun mal die Station, wo viele Leistungsempfänger Arbeit finden. In ganz vielen Fällen bekommen sie so den Fuß in Firmen. Viele namhafte Unternehmen auch in der Region machen Neueinstellung nur über Zeitarbeit, womit sie nicht nur Spitzen abfangen, sondern auch testen, weil die Probezeit oft sehr kurz ist.
ONETZ: Was würden Sie ändern?
Man sollte den Übergang von Arbeitslosengeld zu Hartz IV überdenken. Bei uns im Jobcenter sind alle gemeldet, Durchreisende, Hochschulabsolventen, Selbständige, Arbeitnehmer, die 40 Jahre gearbeitet haben – die verstehen die Welt nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob der Gesetzgeber wirklich diesen heterogenen Personenkreis bei uns vereinen wollte. Wenn wir an die Selbstständigen denken, habe ich wenig Handhabe, wenn sich ein Gewerbe nicht trägt. Ich finde es richtig, dass der Staat aufstockt. Wenn er sich bei mir meldet, wird berechnet, ob er hilfsbedürftig ist: Dazu wird das Einkommen der Familie herangezogen. Wenn er unter der Grenze liegt, bekommt er Leistungen. Und er muss belegen, dass er immer wieder versucht, seine Situation zu verbessern. Aber was ist die Alternative? Ich werde ihn nicht vermitteln können, weil er jedem potenziellen Arbeitgeber erzählen wird, dass er eigentlich einen Kiosk hat.
ONETZ: Herr Renner, der von sich sagt, nie sanktioniert geworden zu sein, bemängelt glaubhaft (mit sechs Aktenordnern), dass sehr viele Bescheide fehlerhaft gewesen seien. Seine Frau Ute gibt zu bedenken, dass „ein normaler Mensch die Bescheide gar nicht verstehen“ würde und ihr Mann die Fehler nur entdeckt habe, weil er sich so intensiv in die Materie hineingekniet habe.
Das Gesetz insgesamt ist sehr komplex, da ist es wirklich schwierig, manche Dinge nachzuvollziehen und zu verstehen. Auch ich muss mich vorbereiten, um so einen Bescheid zu erklären. Aber das verlangt der Gesetzgeber. Wir haben bei uns in Deutschland eher eine Lex spezialis. Bei Bedarfsgemeinschaften geht es um viele Personen, die verschiedene Tätigkeiten ausüben. Jeder hat Freibeträge, wenn eine Person das Einkommen mehr als decken kann, wird es in bestimmten Fällen auf die anderen Mitglieder angerechnet. Wer hat sich so was ausgedacht? Fallstricke gibt es auch bei der Unterkunft: Eine Nebenkostenabrechnung ist nicht immer so klar. Aus der normalen Stromrechnung muss der Heizstrom rausgerechnet werden. Herr Renner weiß sehr viel, er ist ja nicht von ungefähr Sprecher der Initiative. Zum Schutz meiner Mitarbeiter muss ich sagen: Wir berechnen so gut wie nichts mehr manuell. In der Regel stimmt das auch, aber bei Gesetzesänderungen muss man manuell nach(be)rechnen, das ist schon eher fehleranfällig.
ONETZ: Bei einer Computerumstellung sei über 14 Tage keine Auszahlung erfolgt – sind die Mitarbeiter im Jobcenter mit den Fallzahlen überfordert?
Wir hatten vor etwa fünf Jahren eine Umstellung im Kassensystem. Die haben wir so gelegt, dass sie in die Mitte des Monats fiel, wo wenig Finanzbewegungen sind. Ausgerechnet bei Familie Renner war da aber eine. Wir haben zunächst einmal die reinbestellt, bei denen es sehr dringend war und haben Schecks ausgestellt.
ONETZ: Die Renners beschreiben die Situation als dramatisch – sie mussten sich Lebensmittel von der Diakonie holen ...
In Notfällen gibt es auch bei uns Lebensmittelgutscheine. Ich denke, dass wir inzwischen einen guten Job machen. 2005, als wir anfingen, war das was anderes, völliges Neuland, neues Personal, das angelernt werden musste. Ich möchte nicht wissen, was da alles in den Bescheiden stand. Mittlerweile sind alle gut qualifiziert und wir haben gute IT-Systeme. Wir haben nahezu keine befristeten Mitarbeiter, das hebt die Qualität der Arbeit. Wir werden auch intern geprüft, die Fehler liegen im Promille-Bereich. Gradmesser sind u.a. die Zahl der Widersprüche. Wir werden heuer bei über 10.000 Bescheiden auf rund 550 im Jahr kommen – davon ist bei maximal einem Drittel etwas falsch gelaufen,
ONETZ: Die Frage ist, ob nicht mehr widersprechen würden, wenn sie die Bescheide verstünden?
Wir haben eine hohe Anwaltsdichte sowie unabhängige Beratungsstellen und Initiativen, die helfen da mit.
ONETZ: Als kontraproduktiv empfindet Herr Renner, dass es für Hartz-IV-Empfänger keine Möglichkeit gibt, bei einem zuständigen Sachbearbeiter durchzurufen und auf dem kurzen Dienstweg fehlerhafte Bescheide zu besprechen. Das würde Zeit, Briefverkehr, Ärger sparen und vor allem zu einem schnelleren Geldfluss führen. Bei allem Verständnis für die Entlastung der Mitarbeiter – müsste man nicht für solche Fälle, wenn eine Familie nicht einmal mehr in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, ein Nottelefon einführen?
Es gibt schon direkte Ansprechpartner, einen Fallmanager, der jeder Bedarfsgemeinschaft zugeordnet wird und einen Sachbearbeiter. Aber wir haben die Telefonie zentralisiert. Das würde ich als Teil unserer guten Organisation sehen. Die ist bei uns ein qualifiziertes Servicecenter mit Mitarbeitern der Agentur, die für SGB 2 geschult sind. Seit wir im Juli 2017 die e-Akte bekamen, können sie Akten einsehen, und Bescheide erklären. Wenn Herr Renner die Durchwahl hätte, würde er sich auch nicht freuen, wenn der Mitarbeiter gerade Pause macht oder ein Gespräch hat. So wird ein Ticket geschrieben, wenn keine Auskunft möglich ist. Das bekommt der zuständige Mitarbeiter. Wenn es zu keinem Rückruf innerhalb von zwei Tagen kommt, wird der Vorgesetzte benachrichtigt.
ONETZ: Ließe sich ein Fehler nicht durch ein Telefonat mit dem zuständigen Fallmanager schnell beheben?
Wenn der Bescheid draußen ist, kann er nicht einfach geändert werden. Rein formal heißt das Widerspruch, da sind wir leider Behörde. Das muss keine detaillierte Abhandlung sein. Dann wird es noch einmal geprüft.
ONETZ: Weiter schildert Herr Renner seine Erfahrungen mit den vermittelten Jobs. Es entsteht der Eindruck, dass sich die Arbeitgeber hier einfach nur bezuschusster, billiger Arbeitskräfte bedienen, die sie nach Ende der Zuschüsse sofort abstoßen. Im konkreten Fall habe eine Stiftung für die Betreuung eines behinderten Schülers rund 2300 Euro/Monat erhalten, davon habe sie Herrn Renner 1100 (abzüglich Ferienzeiten) ausbezahlt – davon seien auch noch 900 von der Agentur oder dem Jobcenter übernommen worden. Wenn das so stimmt, ein einträgliches Geschäftsmodell. Sehen Sie das anders?
Ich denke, das ist in der Regel eine Win-Win-Situation. Die Arbeitgeber profitieren, haben aber auch Mehraufwand, und die Tätigkeit muss nach der Förderung mindestens nochmal so lange weiterbestehen. Dazu kommt, soziale Einrichtungen sind oft eng auf Kante gestrickt. Die Arbeitnehmer profitieren, dass sie wieder in Arbeit sind – eine feste Aufgabe haben, einen strukturierten Tagesablauf – und somit wieder Teil im normalen gesellschaftlichen Gefüge.
Bei uns sind gerade nach dem Rückgang der Arbeitslosigkeit viele Personen verblieben, die mehrere Vermittlungshemmnisse haben – Alter, Gesundheit, psychische Auffälligkeiten, die Dauer der Arbeitslosigkeit, mangelnde Mobilität. Das Thema hat der Gesetzgeber erkannt, deshalb gibt es Sonderförderungen für Arbeitgeber, die diesem Personenkreis dennoch eine Chance gibt. Das gilt für gemeinnützige aber auch private Unternehmen – im ESF für Langzeitarbeitslose kann dem Arbeitgeber ein Zuschuss zu den Lohnkosten von 600 bis 1300 gewährt werden.
Mit dem neuen Teilhabechancengesetz, § 16 I SGB II, können Arbeitsverhältnisse sogar zu 100 Prozent gefördert werden, wenn die Betroffenen mindestens sieben Jahre in Bezug gewesen sind – also schwierig zu vermittelnde Personen. Man muss dabei auch berücksichtigen, dass der Arbeitgeber einen Mehraufwand hat, nicht jeder ist zu 100 Prozent einsatzfähig. Das wichtige an solchen Programmen ist, überhaupt wieder in eine strukturierte Tätigkeit einzutreten. Dazu kommt, dass finanziell auch etwas zurückkommt, da wieder Steuern und Sozialversicherung gezahlt werden, und auch der Konsum steigt.
ONETZ: Eine Gesetzesänderung habe außerdem dafür gesorgt, dass die Einnahmen durch Tageskinder voll angerechnet würden – rund 300 bis 400 Euro monatlich, ein Puffer, der vor Armut geschützt habe. In eine ähnliche Kategorie fällt, dass der Tochter von ihrem Job als Babysitterin der „Überschuss“ vom Kindergeld abgezogen wird. Verankert man damit nicht den fatalen Eindruck, dass sich Anstrengung und Leistung eben nicht lohnen?
Darauf haben wir leider keinen Einfluss, das war eine gesetzliche Änderung. Vorher galten andere Freibeträge. Egal ob Minijob oder sozialversicherungspflichtiges Einkommen: nur die ersten 100 Euro sind frei, zwischen 100 und 1000 Euro sind zusätzlich 20 % nicht anzurechnen. D.h. bei beispielsweise 400 Euro sind 160 Euro frei, 240 Euro werden angerechnet. Grundsätzlich immer zunächst bei der Person, die das Einkommen erzielt. Wenn dann bei Kindern bzw. Jugendlichen das anrechenbare Einkommen zusammen mit dem Kindergeld höher ist als der Bedarf, dann wird dieser überschießende Betrag des Kindergeldes auf die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft angerechnet. Unterm Strich bleibt auf alle Fälle mehr. Und man darf den ideellen Wert der Arbeit nicht vergessen.
ONETZ: Hartz-IV-Empfängern wird oft nachgesagt, dass sie nicht arbeiten wollen. Die Familie Renner ist auf alle Fälle ein Gegenbeispiel?
Es stimmt meist nicht, dass Leute nicht arbeiten wollen. Wenn überhaupt, dann trauen es sich manche nicht (mehr) zu. Nur wenige haben sich mit ihrer Situation arrangiert – das sind nicht einmal fünf Prozent. Womit die Familie Renner Recht hat, ist, dass man das System insgesamt überdenken muss. Es wird zwar immer eine Einrichtung geben müssen, die denen hilft, die sich nicht selbst helfen können. Zum Beispiel Menschen, mit der Einschränkung, etwa nur maximal drei Stunden am Tag erwerbsfähig zu sein oder psychisch beeinträchtigte Personen finden schwer auch bei sehr guter Konjunktur einen Arbeitsplatz. Da kommt man auf vielleicht zehn Prozent der Bezugsberechtigten. Es wäre eine Überlegung wert, ob man sie wieder den Sozialämtern oder anderen Sozialleistungsträgern zuordnet. Aber die Feststellung der Erwerbsfähigkeit macht die Rentenversicherung, das kann ich nicht beurteilen. Um niemanden auszuschließen, könnte man eine Option öffnen, dass sie trotzdem an Programmen teilnehmen können, wie man das auch für Behinderte macht.
ONETZ: Die Familie erzählt, wie sehr sie mit Vorurteilen im Umfeld zu kämpfen hatte. Etwa wenn die Mutter für die Kinder Sport-Klamotten im Second-Hand-Laden besorgte, damit sie auch mal Adidas-Turnschuhe hatten wie die Schulkameraden – dann hätten Nachbarn getuschelt: Die müssen es ja dick haben ...
Wem sagen Sie das? Bei manchen meist anonymen Anzeigen denkt man an den Spruch: „Man braucht keine Feinde, es reichen Nachbarn“. Wir müssen jede Anzeige verfolgen. Es gibt Leute, die schildern detailliert, wann jemand die Wohnung verlässt, welches Auto er fährt. Wir prüfen so weit wie möglich, ob ein Missbrauch vorliegt. Es kommt manchmal vor, dass Adressen angegeben werden, die nicht stimmen, um mehr Miete zu bekommen. Aber das sind ganz seltene Ausreißer. Es gibt viel mehr Fälle, wo Ansprüche nicht geltend gemacht werden.






















Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.
Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.