Edelsfeld
20.12.2018 - 19:42 Uhr

Zehn Jahre in "Hartz-IV-Haft"

Hartz IV steht zur Disposition. Für die einen ist die rotgrüne Reform ein Grund, warum die deutsche Volkswirtschaft so gut dasteht. Für andere ein zutiefst ungerechtes Folterinstrument für Langzeitarbeitslose. Ein Fallbeispiel.

Sie lassen sich nicht entmutigen: Willibald und Ute Renner. Bild: jrh
Sie lassen sich nicht entmutigen: Willibald und Ute Renner.

Vor zwölf Jahren ändert sich Willibald Renners (62) Leben schlagartig. Ein entzündeter Herzmuskel wirft den gelernten Bauzeichner aus der Bahn. "Zu Beginn habe ich das gar nicht Ernst genommen", erzählt der Vater dreier Kinder, der 20 Jahre Lüftungsanlagen für einen Handwerksbetrieb verbaute. "Ich dachte, in bin gleich wieder zurück." Doch sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. "Es stand auf der Kippe." Aufgrund der schlechten gesundheitlichen Prognose muss er seinen Job aufgeben. "Ich bekomm' ganz schnell was Neues", war sich der damals 50-Jährige sicher. "Ich kannte viele Leute, und die wussten, dass ich gut und zuverlässig bin."

Der Rekonvaleszent unterschätzt die Zweifel der Personalchefs an seiner Leistungsfähigkeit: "Ich musste ja in meine Bewerbungen reinschreiben, dass ich nicht mehr zu 100 Prozent einsatzfähig bin." Ein K.o.-Kriterium. Renner bekommt so viele Absagen wie er Bewerbungen schreibt. Das Jahr vergeht ohne Erfolgserlebnis, der hoch motivierte Arbeitslose rutscht in die Hartz-IV-Falle.

Jeder Bescheid fehlerhaft

Die Umstellung für die fünfköpfige Familie mit Hund und Katze ist enorm. "Zu Beginn gab's einen Armutsgewöhnungszuschlag", sagt er kopfschüttelnd, "eine Art Prügelgewöhnheitswatschn." Auf den Bedarfssatz gibt's für ein Jahr pro Erwachsenem 160, pro Kind 60 Euro oben drauf. Aber was hilft die gutgemeinte Geste, wenn Renner in fast jeder Abrechnung Fehler zu seinem Ungunsten feststellt? "Ich habe nachgerechnet, dass unsere Bedarfsgemeinschaft 250 Euro zu wenig bekommt." Er schreibt einen Brief, bekommt keine Antwort. "Danach ging ich zur Beratungsstelle der Diakonie in Sulzbach." Mit deren Hilfe bekommt die Familie das fehlende Geld, ein beträchtlicher Teil des Haushaltseinkommens, nachbezahlt.

Renner breitet einen seiner sechs Leitz-Ordner auf dem Tisch aus, zeigt die Dokumentation der Briefwechsel: Mal muss er durchsetzen, dass Stromkosten für die Heizung überwiesen werden. Mal sind es einfache Rechenfehler. Seine Frau Ute blickt kopfschüttelnd auf die Unterlagen: "Ein normaler Mensch versteht das gar nicht." Fast könnte man vermuten: Man soll es gar nicht so genau verstehen. "Es wäre ja einfach, wenn man seinen Sachbearbeiter anrufen und solche Fehler auf dem kleinen Dienstweg klären könnte", ärgert sich Renner, "aber das ist nicht gewünscht." So viel zum Thema, der Kunde sei König. "Ich habe jedem Fehler widersprochen, deshalb wurde es allmählich besser - beim letzten Bescheid konnte ich leider keinen Cent beanstanden", sagt er mit schiefem Lächeln.

Dabei macht er den Leuten vor Ort keinen Vorwurf: "Das Jobcenter setzt nur um, die Gesetze kommen von oben." Die Ermessensspielräume würden immer kleiner. "Einer erschöpfenden Aufklärungspflicht wird nicht nachgekommen, weil angelernte Kräfte vieles nicht besser wissen." Er wird zum Experten, nicht nur in eigener Sache: "Da ich mich im Sozialgesetz gut auskenne, wurde ich Sprecher bei der Hartz-IV-Gruppe der Diakonie in Sulzbach." Helfen lassen sich die Ratsuchenden nur begrenzt: "Das ist ein besonderer Menschenschlag, die meisten schämen sich." Für sie sei der Austausch mit Leidensgenossen das Wichtigste.

Dabei kann man von Renners Kampf gegen die Windmühlen der Hartz-IV-Bürokratie einiges lernen. Entgegen aller Klischees, man müsse die "Kunden" nur lange genug triezen, dann fänden sie schon einen Job, zeigt Renner Eigeninitiative: "Ich habe mich sogar zum Tagesvater qualifiziert", zeigt der Facharbeiter größte Flexibilität. In der Landwirtschaftsschule in Amberg bildet er sich zum Hauswirtschafter weiter. "Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich zwar immer wieder Jobs bekomme, aber sobald die Zuschüsse wegfallen, war auch ich wieder weg." Liegt es an eigenen Fehlern, oder bedienen sich manche Unternehmen einfach nur am Reservoir subventionierter Arbeitskräfte? So ist es, als er an der Mittelschule Auerbach bei Mittagbetreuung und Hausaufgabenhilfe eingesetzt wird. Und nicht anders ergeht es ihm, als er für die Regens-Wagner-Stiftung (Michelfeld) die Inklusionsbetreuung eines behinderten Realschülers übernimmt.

Amberg20.12.2018

Aus nach der Förderung

Nach einem halbem Jahr, dem Ende der Förderung, wieder das Aus: "Ich sollte einen Auflösungsvertrag unterschreiben." Unwissentlich verzichtet Renner auf Ansprüche auf das zurückgelegte Feriengeld. "Sie haben mich überrumpelt, bei mir zu Hause, während wir Konfirmation feierten, angerufen." Völlig durch den Wind lässt er sich über den Tisch ziehen.

Wenn Hartz IV eines nicht ist, dann eine Motivation, sich etwas dazuzuverdienen: "Zu Beginn hatten wir noch Tageskinder", erzählt Renner, "bis das Gesetz geändert und auch das voll angerechnet wurde." Die Mutter des Tageskindes sei verzweifelt gewesen: "Sie hat geheult, als wir es nicht mehr machen konnten, musste einen Zweitjob annehmen." Renner hilft bei den Hausaufgaben: "Der Bub hatte vorher lauter rote Hefte." Zudem steht er zu ungewöhnlichen Zeiten zur Verfügung: "Von Samstagfrüh' um 6 Uhr bis Sonntagabends - das macht doch sonst keiner." Und das für eine Aufwandsentschädigung von 2,56 Euro pro Stunde. "Diese 300 bis 400 Euro im Monat waren der Puffer, der uns vor Armut rettete - danach hätte ich nur noch 100 Euro behalten dürfen, wenn ich alle Ausgaben nachweise."

Demotivierend ist das Hartz-Regime auch für Ehefrau Ute. Die qualifizierte Altenpflegerin verdient ihr Geld im ambulanten Pflegedienst. "Würde ich ein paar Stunden mehr arbeiten, würde uns nicht viel mehr übrig bleiben - vom Mehrverdienst dürfte ich nur 10 Prozent behalten." Ähnlich ergeht es den Kindern: Dass das Bafög genau wie das Kindergeld voll auf die Bedarfsgemeinschaft angerechnet wird, ist logisch: "Aber würden Sie Ihrer Tochter das bisschen Taschengeld wegnehmen oder vom ersten verdienten Geld des Sohnes den Mietanteil abziehen?", fragt Renner. Von 200 Euro, die die Tochter als Babysitterin dazuverdient, bleiben ihr 90. Der "Überschuss" wird vom Kindergeld abgezogen. "Dann wundern sich Politiker über Hartz-IV-Karrieren", ärgert sich Renner, weil damit bewiesen ist, dass sich Leistung eben nicht lohnt.

Zehn Jahre Hartz-IV haben die Renners geprägt, aber nicht gebrochen. "Wir haben aus dem Wenigen, das wir haben, das Beste gemacht", sagt Ute. Beide kochen gerne und frisch mit Gemüse aus dem Garten und auch mal einen Karpfen, den sie günstig bei einem Bekannten aus dem Weiher holen. Auch der Nachwuchs ist auf einem guten Weg: Eine Tochter ist noch in der Schule, die zweite auf der Sozialakademie und der Sohn bereits im Berufsleben - nicht Dank sondern trotz Hartz IV. "Ich habe jetzt meine Rente beantragt", sagt Renner, "die Abschläge nehme ich zähneknirschend in Kauf, denn dann bin ich wieder ein freier Mann." Seiner Frau und den Kindern wird dann nichts mehr vom Einkommen abgezogen.

 
Kommentare

Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.

Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.

Klicken Sie hier für mehr Artikel zum Thema:
Zum Fortsetzen bitte

Sie sind bereits eingeloggt.

Um diesen Artikel lesen zu können, benötigen Sie ein OnetzPlus- oder E-Paper-Abo.