Für das experimentelle Theaterdesign „Heisenberg“ braucht es ein stimmiges Konzept und zwei Variable, Schauspieler wie Anna Stieblich und Charles Brauer, die Leute lesen und Liebe spielen. Soweit die Theorie des Theaterabends mit dem Stück in sechs Szenen von Simon Stephens. In der Praxis war unter der Versuchsanleitung von Regisseur Gerd Heinz und im ungewöhnlichen Bühnenbild von Lilot Hegi, ein besonderer Schauspielgenuss geboten, frei von physikalischen Formeln, aber voller guter Dialoge und lustvoller Spielkunst.
Auffallend beim Versuchsaufbau ist der Fels, der Findling, der groß und mächtig auf der Bühne liegt. Sein Standpunkt ist fest, seine Lagekoordinate unverrückbar, sein Gewicht schwer. Dazu kommen die Impulsgeber, zwei menschliche Elementarteilchen, die Protagonisten Georgie Burns und Alex Priest, die rein zufällig aufeinanderprallen und ab da ganz unterschiedlich reagieren.
Wie eine Naturgewalt bricht Georgie in das Leben des arglosen Alex Priest ein. Im belebten Londoner Bahnhof küsst sie ihn einfach in den Nacken. Eine Verwechslung? Ja und nein! Ab jetzt sprudeln Unwahrheiten, Fantasien und Lebenslügen aus dem Mund der jungen Frau, die sich als 42-jährige Killerin vorstellt. Ach nein, nur Spaß, Kellnerin aus New Jersey nein, eigentlich Sekretärin an einer Schule. Ihr Mann ist tot. Sie war nie verheiratet und hat keine Kinder. Ihr Sohn lebt in Amsterdam und so weiter und so weiter… Für den scheuen Alex ist das alles so fragwürdig und fremd wie faszinierend. Er ist bereits 75, stammt aus Irland, betreibt in London eine Metzgerei und mag klassische Musik ebenso gern wie Tango oder seltene Fremdwörter, „repetitiv“ zum Beispiel. Sein Leben verläuft in geregelten Bahnen. Was sollen diese beiden miteinander anfangen? Georgie lässt nicht locker, mit Charme und frechen Sprüchen umgarnt sie den alten Mann, landet in seinem Bett und schließlich sogar auf der Spitze des Bühnenberges.
Schillernd und bunt wie ein Chamäleon wechselt Anna Stieblich als Georgie die Farben Stimmungen und Garderoben. Zappelig und unruhig mit Händen und Füssen unterstreicht sie, was sie gerade sagt. Ihre schauspielerische Palette ist nuancenreich: von unstet bis anlehnungsbedürftig, von einsam bis überschäumend, von frech aggressiv bis unsicher fragend. Georgie ist ganz Gefühl. Aber ist ihr Mann, wie sie behauptet, wirklich tragisch gestorben? Hat sie tatsächlich einen 19-jährigen Sohn in New Jersey/USA, den sie wiedersehen möchte? Fakt in dem Lügenwirrwar ist die gemeinsame Nacht wonach Georgie verrät, dass sie Unbeholfenheit beim Sex mag: „Es hat dann viel weniger was von einem Reit- und Springturnier.“
Charles Brauer, der ehemalige Tatortkommissar, nimmt als Alex die Gegenposition ein. Alter Mann in altmodischen Anzügen lebt sein verschlossenes und verdruckstes Einsiedlerleben. Große Gefühle, Liebe oder etwa sogar Sex finden irgendwie nicht (mehr) statt. Mit unaufdringlicher, aber intensiver Mimik und mit dezenten Gesten porträtiert er einen Mann, der Gefühle möglichst ganz unter den Teppich kehrt und doch immer wieder von ihnen überwältigt wird. Nicht zufällig kommen ihm die Tränen nach einer erfolgreichen Liebesnacht. Gegen innere Widerstände und alle Vernunft verliebt er sich in die Chaotin, bis er merkt, dass die Begegnung mit ihr offenbar doch kein Zufall war. Erst später enthüllt Georgie, dass sie Alex aus bloßer Geldnot ausgewählt hat und 15.000 Pfund braucht, um den Sohn in Amerika zu suchen.
Sechs unterschiedliche Szenarien wie Bahnhof, Butcher oder Bett werden hinter Projektions-Vorhang immer neu arrangiert und mit sparsamem Mobiliar ausgestattet. „Die Räume dazwischen“ füllen die großartigen Schauspieler mit Leben und Liebe, mit schicksalhaftem Zusammentreffen und charmant-angriffslustigem Geplauder. Einige wenige Besucher entschieden sich für einen frühzeitigen Abbruch des Heisenberg-Theater-Projekts. Die große Mehrheit dankte mit überzeugendem Applaus für den gelungenen Abend, der weder tiefere Kenntnisse der Quantenphysik, noch zur berühmten „Unschärferelation“ des Nobelpreisträgers Werner Karl Heisenberg aus Würzburg erforderte.
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