Deutschland und die Welt
27.10.2023 - 08:48 Uhr

An die Menschenwürde der Opfer und die Gefühle der Angehörigen denken

Der Presserat erinnert die Redaktionen daran, vor der Veröffentlichung von Fotos und Videos von Terroropfern aus Israel sorgfältig abzuwägen und sich ihrer Verantwortung für die Wirkung solcher Bilder bewusst zu sein.

Trauernde versammeln sich bei der Beerdigung um die Gräber von Yam Goldstein und ihrem Vater Nadav. Er und seine Tochter wurden am 7. Oktober in ihrem Haus im Kibbuz Kfar Aza nahe der Grenze zum Gazastreifen von Mitgliedern der Hamas ermordet. Bild: Ariel Schalit, dpa
Trauernde versammeln sich bei der Beerdigung um die Gräber von Yam Goldstein und ihrem Vater Nadav. Er und seine Tochter wurden am 7. Oktober in ihrem Haus im Kibbuz Kfar Aza nahe der Grenze zum Gazastreifen von Mitgliedern der Hamas ermordet.

Bereits zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine waren vom Presserat mahnende Worte gekommen. Er appellierte an die deutschen Medien, vor der Veröffentlichung von Kriegsbildern sorgsam zwischen dem Informationsinteresse der Leserschaft und den Interessen von Opfern und deren Angehörigen abzuwägen. Gerade Fotos von Kriegsverbrechen hätten eine hohe Relevanz und eine herausragende nachrichtliche Dimension. Sprecherin Kirsten von Hutten wies damals darauf hin, dass der Presserat Fotos von getöteten Zivilisten in der Vergangenheit mit Blick auf das hohe Informationsinteresse in vielen Fällen als zulässig bewertet habe. Laut Ziffer 11 des Pressekodex sollten Redaktionen jedoch darauf achten, dass Opfer durch die mediale Darstellung nicht zusätzlich herabgewürdigt werden. Der Presserat habe in der Vergangenheit beispielsweise beanstandet, wenn bestimmte Details von Verletzungen herangezoomt oder im Video als Dauerschleife gezeigt wurden.

Nun hat sich der Presserat aufgrund der Geschehnisse in Israel erneut zu Wort gemeldet. "An der Berichterstattung über den beispiellosen Angriff der Hamas und die jetzt folgenden Kampfhandlungen besteht zweifellos ein überragendes öffentliches Interesse", wird Sprecherin Kirsten von Hutten in einer Presseerklärung zitiert. Dennoch müssten Redaktionen vor der Veröffentlichung von Fotos und Videos die Menschenwürde der Opfer und die Gefühle der Angehörigen im Blick behalten.

Ebenfalls sollten Redaktionen darauf achten, sich mit der Veröffentlichung von Bildmaterial, das von den Tätern stammt, nicht instrumentalisieren zu lassen. Von Hutten verweist hier auf die Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung, Jugendschutz) des Pressekodex und vor allem die Richtlinie 11.1 (Unangemessene Darstellung), in der es wörtlich heißt:

  • "Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird. Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche."

Zu berücksichtigen, so von Hutten weiter, seien auch die Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit) und insbesondere die Richtlinie 8.2 (Opferschutz), in der festgehalten ist:

  • "Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt."

"Letztlich müssen die Redaktionen immer im Einzelfall entscheiden, ob sie Fotos oder Videos von Opfern und Gewaltszenen zeigen, weil daran ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, oder ob sie aus ethischen Gründen darauf verzichten", betont Kirsten von Hutten im Namen des Presserats. Dieser ist die freiwillige Selbstkontrolle der Printmedien und deren Online-Auftritte in Deutschland. Anhand von Beschwerden überprüft er die Einhaltung ethischer Regeln im Journalismus, die im Pressekodex festgeschrieben sind.

Der bekannte Medienwissenschaftler Christian Schicha, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich in seinem Standardwerk "Medienethik" auch mit der Terrorberichterstattung beschäftigt. Sie gehöre zu den schwierigsten journalistischen Aufgaben, sagt er. Einerseits sei es wichtig, derartige Verbrechen öffentlich zu machen, andererseits hält Schicha einen sensiblen Umgang mit dieser Thematik für zentral, "um Panikreaktionen in der Bevölkerung zu vermeiden und den Tätern keine Medienbühne zu bieten, um ihre menschenverachtenden Ziele publikumswirksam zu propagieren".

Schicha nennt folgende Gründe, die für eine Veröffentlichung von Gewaltbildern sprechen können:

  • Die Informations- und Aufklärungspflicht der Medien gegenüber der Öffentlichkeit: Ethisches Handeln kann und darf nicht reales Leid ausblenden
  • Das kollektive Gedächtnis: Gewaltbilder sind für den kulturnotwendigen Erhalt der Vergangenheit von immenser Bedeutung (Beispiel: Bilder der befreiten NS-Konzentrationslager 1945)
  • Appellfunktion von Gewaltbildern: Bilder können zu gesellschaftlicher Änderung führen (Beispiel: Bilder aus dem Vietnamkrieg als Katalysator der Antikriegsbewegung)

Das sind für Medienethiker Schicha die Gründe gegen eine Veröffentlichung von Gewaltbildern:

  • Befürchtung einer zunehmenden Abstumpfung und Verrohung der Rezipienten
  • Gewaltbilder als Stressoren: mögliche medienbedingte Schockzustände bei Rezipienten
  • Gewaltbilder können auch zu einer Desinformation führen (machen nur oberflächlich auf die Relevanz eines Themas aufmerksam)
  • Gewaltbilder fördern auch voyeuristische Interessen
  • Vorwurf des Sensationsjournalismus: Publikation von Gewaltfotos zur Auflagensteigerung

Schichas Fazit lautet unter anderem: "Insgesamt geht es um die Einordnung von Ereignissen statt plakativer Darstellung von Posen, einen distanzierten Blick statt reißerischer Perspektive. Der Blick sollte sich auf die Opfer und nicht nur auf den oder die Täter richten. Dabei ist der Persönlichkeitsschutz der Opfer und der Angehörigen zu beachten."

Nach dem terroristischen Überfall der Hamas hat der "Welt"-Journalist Deniz Yücel in einem Kommentar unter dem Titel "Wir müssen diese furchtbaren Bilder zeigen" an Veröffentlichungen wie das "Napalm-Mädchen" aus dem Vietnamkrieg oder den von RAF-Terroristen entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer erinnert und den Schluss gezogen: All diese Bilder seien entwürdigend gewesen. Und doch habe das Interesse der Allgemeinheit an ihrer Verbreitung schwerer gewogen. Yücel bezieht eindeutig Position: "Die Bilder von Hamas-Terroristen, die Opfer schänden, sind abstoßend und verstörend. Dürfen Medien solche Szenen zeigen? Sie sollten es sogar. Die Öffentlichkeit muss sehen, mit welcher bestialischen Bande die israelische Gesellschaft konfrontiert ist."

Yücel ist unter anderem Träger des renommierten Theodor-Wolff-Preises (Journalistenpreis der deutschen Zeitungen) und war wegen seiner journalistischen Arbeit ab Februar 2017 ein Jahr lang in der Türkei ohne Anklage in Haft.

Deutschland und die Welt07.04.2022
 
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