Herbst 1983. In einer Kneipe in Ostberlin sitzen drei Kumpels und schmieden Fluchtpläne. Mit jedem Schnaps werden sie mutiger. Im Boot über die Ostsee? Lieber nicht. Mit dem Trabi über die Tschechoslowakei? Schon eher. "Es hieß, die Tschechen schießen nicht."
Joachim Ernst, Jürgen Seifert und Peter Pietruschinski sind um die 30. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit im Kiez. Am 7. November 1983 sitzen die drei Freunde im himmelblauen Trabant. Zunächst fahren sie nach Prag zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Der Botschaftsvertreter trifft mit ihnen folgende Vereinbarung: Die drei DDR-Bürger hinterlassen ihre Personalien; erfolgt am Abend keine Rückmeldung aus Westdeutschland, bringt ein Kurier ihre Namen als geheime Verschlusssache nach Bonn.
Gegen 20 Uhr rollen die Drei im Trabi aus Richtung Cheb auf die Grenze zu. Sie passieren ein mobiles Kontrollfahrzeug, das die Verfolgung aufnimmt. Fahrer Jürgen Seifert gibt Gas. An der schmalen Straße zum Übergang Pomezí kippt der Trabi ins unbefestigte Bankett, so dass die Männer aus der Fahrerseite klettern müssen. Joachim Ernst verliert einen Schuh. "Looft!", schreit Peter den Freunden zu. Dann laufen sie los. Jeder für sich. Querfeldein. Vor ihnen liegt Schirnding. Hinter ihnen bellen die Hunde der Grenzwachen. Die Aktion endet im Zuchthaus.
Von Hund gebissen
Diese Woche - nach 35 Jahren - kehren die drei Männer erstmals an die Stelle ihrer Festnahme zurück. Das Grenzlandmuseum Schirnding unter Leitung von Wolfgang Brauner empfängt das Trio. Bundespolizist Reinhold Balk und Werner Leikam, Experten für den Eisernen Vorhang, begleiten die Gäste an die Grenze. Die Berliner schildern ihre Flucht in schillernden Farben - im wahrsten Sinne des Wortes. Sie blieben noch vor dem Signalzaun in Stolperdrähten hängen, was den Abschuss von Leuchtraketen auslöste. "Es war wie Silvester", sagt Joachim Ernst.
7. November 1983, 20.05 Uhr. Die Hunde holen auf. Peter Pietruschinski wirft sich flach auf den Boden, drückt das Gesicht in die Erde. "Ich hatte Angst vor Bissen." Er spürt den Hund an sich schnüffeln. "Dann kamen schon die Grenzer und haben mich hochgerissen. Achter aufm Rücken und rein in'n Jeep." Jürgen Seifert erwischt es übel. Der Hund fügt ihm Bisswunden an Oberschenkel und Genitalien zu, die später auf der chirurgischen Abteilung des Cheber Krankenhauses versorgt werden. Alle drei werden festgenommen.
Keiner weiß vom anderen. Jeder glaubt, die anderen hätten es geschafft. Im Transporter nach Pilsen sieht man sich wieder. Nach zehn Tagen Haft in der Tschechoslowakei erfolgt die Auslieferung an die Stasi. Eine "Iljuschin", Regierungsmaschine der DDR, ist besetzt mit gescheiterten Republikflüchtlingen, die im ganzen Ostblock eingesammelt wurden. "Diesen Weg sind damals viele gegangen." Das Berliner Staatsbezirksgericht verurteilt die drei Männer wegen ungesetzlichem Grenzübertritt zu 18 bis 20 Monaten Haft.
Dutzende Verfahren
Am Dienstag, 21. Mai 2019, stehen die drei Berliner wieder gemeinsam vor Gericht: diesmal vor dem Bezirksgericht Cheb. Drei lockere Typen mit "Berliner Schnauze mit Herz". Aber mit ihrem Anliegen ist es ihnen ernst, als sie die Stufen des imposanten Jugendstilbaus hinaufsteigen. Sie haben ihre Rehabilitation beantragt. Heute wird im Fall Joachim Ernst verhandelt, die beiden anderen Verfahren sind noch nicht terminiert.
Richter Jirí Kutílek - weißes Haar, schwarze Robe mit violettem Kragen - hat Routine. Er fällte 2018 eine der ersten historischen Entscheidungen auf Rehabilitation. Etliche Verfahren folgten. Allein der Prager Anwalt Lubomir Müller vertritt 45 ehemalige DDR-Bürger. 30 Verfahren sind abgeschlossen, 29 positiv. Nur in einem Fall wurde die Rehabilitation versagt, weil kriminelle Beweggründe hineinspielten.
Im Fall Ernst ist die Sache klar. Selbst Staatsanwältin Václava Badalová plädiert für die Rehabilitation. Ebenso Anwalt Müller: "Herr Ernst hat nichts getan. Er wollte nur woanders wohnen." Die Beweislage ist eindeutig. Die Grenzwachen haben Buch geführt über Grenzdurchbrüche. Die Rehabilitation bestätigt, dass die Festnahme Unrecht war und gegen die Grundsätze eines demokratischen Staates verstoßen hat.
Genau darum geht es dem 63-jährigen Joachim Ernst. "Ich danke der Tschechischen Republik, dass sie das vergangene Unrecht aufarbeitet", sagt er in seinem letzten Wort. "Es tut gut." Er hält einen flammenden Appell für das Weiterbestehen der Europäischen Union: "Ich bin für ein freies Europa. Für offene Grenzen. Darum bin ich heute hier."
Mit der Rehabilitation könnte er eine Entschädigung beantragen. Die bezahlten Summen sind eher symbolisch. Die niedrigste Entschädigung betrug 16 Euro. In einem Fall wurden 4900 Euro Schmerzensgeld bezahlt: Ein heute in Köln lebender Mann hat durch einen Oberschenkeldurchschuss bleibende Schäden erlitten. Joachim Ernst, der in der Küche einer sozialen Einrichtung arbeitet, geht es nicht ums Geld: "Es muss Gerechtigkeit geben." Er begrüßt ausdrücklich die Ermittlungen der Weidener Staatsanwaltschaft zu den Todesschüssen am Eisernen Vorhang.
Und wie ging das weiter 1983? Joachim Ernst saß seine Strafe im Gefängnis Zeithain ab, das an das Stahlwerk Riesa angeschlossen war. Umittelbar nach der Entlassung wurden die Freunde von Westdeutschland freigekauft. Ihre Übersiedlung wurde von Anwalt Wolfgang Vogel, dem legendären Unterhändler der DDR, eingefädelt.
Joachim Ernst, Jürgen Seifert und Peter Pietruschinski zogen nach ihrer Einbürgerung nach West-Berlin, wo sie heute noch leben. Sie reisten gemeinsam nach London und Paris, fanden neue Arbeitsstellen, begannen ein neues Leben. Eines sind sie immer geblieben: Freunde fürs Leben. "Wir wollten die Freiheit", sagt Peter. "Dat war es uns wert."
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