In Tschechien muss sich erstmals ein kommunistischer Ex-Minister im Zusammenhang mit Todesfällen am früheren Eisernen Vorhang zwischen Ost und West vor Gericht verantworten. Der Prozess gegen Vratislav Vajnar, der von 1983 bis 1988 das Innenministerium der damaligen Tschechoslowakei (CSSR) leitete, soll am Dienstag an einem Gericht in Prag beginnen, wie das Gericht mitteilte. Dem 92-Jährigen wird Amtsmissbrauch vorgeworfen.
In dem Verfahren geht es unter anderem um eine mutmaßliche Mitschuld an den Todesfällen von Frantisek Faktor, Hartmut Tautz und Johann Dick aus Amberg. Der 59-jährige Amberger war am 18. September 1986 zu einer Wanderung im Landkreis Tirschenreuth aufgebrochen. Das Ziel hatte der ehemalige Oberstleutnant zufällig gewählt. Von einem Parkplatz nahe Hermannsreuth marschierte er bis Treppenstein, einem Weiler zwischen Mähring und Griesbach. Was dann geschah, ist für viele Oberpfälzer bis heute unbegreiflich.
Johanns Ehefrau wartete an diesem Tag vergebens auf ihren Mann. Die Familie meldete ihn am nächsten Morgen als vermisst. Über 48 Stunden war der Familienvater wie vom Erdboden verschluckt. Am 20. September 1986 erreichte die Familie in Amberg dann die Nachricht: Es habe einen "Grenzzwischenfall" mit einem Toten gegeben. Papiere identifizierten den Toten als Johann Dick.
Tödliche Verwechslung
Zeitgleich mit Dicks Wanderung flohen zwei Polen vor tschechoslowakischen Grenzwachen in Richtung Westen: der 19-jährige Marek Majko und sein Kumpel Andrezej Gwizdon. Die Jagd nach den Flüchtigen führte die Grenzschützer geradewegs zu dem Wanderer - es kam zu einer tödlichen Verwechslung. Die bayerischen Ermittler fanden später 25 Patronenhülsen. Ein Bauchschuss verletzte den 59-Jährigen tödlich. Nach Überzeugung der deutschen Seite befand er sich dabei noch auf BRD-Gebiet. Der tschechische Schriftsteller Ludek Navara ("Vorfälle am Eisernen Vorhang") befasste sich ausführlich mit dem Tod des Familienvaters. Er sieht die Tragik im Fall Dick, dass sich der 59-Jährige seinen "eigenen Tod zugelost" hatte.
Auch das Schicksal des damals erst 18-jährigen Magdeburgers Tautz schockierte vor rund 37 Jahren die Bevölkerung. Tautz wurde 1986 in der Nähe von Bratislava von Hunden bei dem Versuch zerfleischt, über die Grenze nach Österreich zu gelangen. In drei weiteren Fällen geht es um schwere Verletzungen bei Fluchtversuchen. Die Ermittlungen gehen auf eine Strafanzeige der Initiative "Plattform für das Gedenken und Gewissen Europas" zurück.
Angeklagter ist doch verhandlungsfähig
Am Dienstag werden diese Fälle in Prag noch einmal aufgerollt. Ursprünglich war das Strafverfahren gegen den früheren hochrangigen Funktionär wegen einer Demenzerkrankung eingestellt worden. Das tschechische Verfassungsgericht äußerte indes Zweifel an der Unparteilichkeit der Gutachter. Ein neues Gutachten kam dann zu dem Ergebnis, dass Vajnar einem Prozess folgen könne. Die Frage nach dem Gesundheitszustand des Angeklagten dürfte auch vor Gericht eine zentrale Rolle spielen.
Der Eiserne Vorhang wurde im Kalten Krieg von den Ostblockstaaten scharf bewacht. Bei Fluchtversuchen kamen nach Untersuchungen von Historikern zwischen 1948 und 1989 an den Grenzen der Tschechoslowakei zur Bundesrepublik Deutschland und zu Österreich nachweislich mindestens 280 Menschen ums Leben, etwa durch Stromschlag oder Schüsse von Grenzsoldaten.
Verzeichnis der Grenztoten, auf Tschechisch
Der unfassbare Tod des pensionierten Familienvaters Johann Dick.
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