Deutschland und die Welt
17.11.2019 - 18:42 Uhr

Hoffen auf Tschechiens Samtene Revolution 2.0

Die Tschechen waren nicht die ersten, die ihre realsozialistischen Herrscher vom Hof jagten: Polen, Ungarn, sogar Ostdeutsche und Bulgaren waren im Laufe des Umsturzjahrs 1989 schneller.

Kommentar von Jürgen Herda
So viel Menschen der riesige Wenzelsplatz fasst: Hunderttausende lauschten am 24. November 1989 den Reden Václav Havels und Alexander Dubčeks. Bild: Von ŠJů (cs:ŠJů). This file is an electronic scan of a film (photochemical) photograph made by ŠJů.film No.:159, picture No.: 20camera: Vilia, film type: Foto 64 (Svema), scanner: scanned from a negative by Foto-graf, CC BY-SA 3.0, https://commons. wikimedia.org/w/ index.php?curid=14684594
So viel Menschen der riesige Wenzelsplatz fasst: Hunderttausende lauschten am 24. November 1989 den Reden Václav Havels und Alexander Dubčeks.

Dafür war die Samtene Revolution in der ehemaligen ČSSR die fantasievollste im gesamten Ostblock. Václav Havel, der unbeugsame Dramatiker, der Gustav Husák über Jahrzehnte mit offenen Briefen traktierte, steuerte vom fantastischen Theater Laterna Magica aus die anfängliche Studentenrevolte, die bald zur Lawine werden sollte.

Vollendung des Prager Frühlings

Mit den Reden Havels und Alexander Dubčeks am 24. November am überfüllten Wenzelsplatz vollendeten die beiden prominentesten Dissidenten den Prager Frühling, den gut 20 Jahre zuvor die Panzer des Warschauer Paktes niedergewalzt hatten. Generalsekretär Jakeš verkündete am gleichen Tag seinen und den Rücktritt des Politbüros. Ein weiterer Kreis schließt sich: Nach dem Philosophenpräsidenten der ersten Republik von 1918, Tomáš Garrigue Masaryk, wählt das Volk nun einen Dichter ins höchste Staatsamt.

In allen postsozialistischen Staaten waren die Erwartungen an Freiheit, Demokratie und Europa groß, zu groß vielleicht. Die Transformation ging den Menschen nicht schnell genug oder auch zu schnell. Tafelsilber wurde an Investoren verhökert, Unternehmen gingen pleite, Arbeitnehmer wurden auf die Straße gesetzt, die Preise stiegen, Renten und Löhne hielten damit nicht Schritt. Und dann sitzt da Havel auf der Prager Burg, der Moralist, der dem Volk immer viel zugemutet hat: Der die Mitschuld der Mitläufer benennt und Zivilcourage einfordert.

Rund 250.000 Menschen forderten unmittelbar vor dem 30. Jahrestag der Samtenen Revolution in Prag Ministerpräsident Andrej Babiš zum Rücktritt auf. Bild: Petr David Josek/AP/dpa
Rund 250.000 Menschen forderten unmittelbar vor dem 30. Jahrestag der Samtenen Revolution in Prag Ministerpräsident Andrej Babiš zum Rücktritt auf.

Vollendung der Zivilgesellschaft

Die Enttäuschten und Abgehängten wenden sich bald den Populisten zu, die ihnen soziale Wärme versprechen und sich vor allem selbst oder ihre Parteien bereichern: Der ODS-Technokrat Václav Klaus und der slowakische Spalter Vladimír Mečiar teilen erst das Land ohne Volksbefragung untereinander auf und dann die Pfründe. Am Ende einer Kette politischer Enttäuschungen steht die Wahl des slowakischen Milliardärs und Medienunternehmers Andrej Babiš zum Ministerpräsidenten. Der nüchterne Unternehmer ist kein Kaliber vom Format Trump oder Berlusconi, er ist schlicht auf den eigenen Vorteil bedacht.

Dass jetzt wieder 250.000 Tschechen gegen die Regierung protestieren, macht Mut. 30 Jahre nach dem Beginn der Samtenen Revolution ruft der Theologiestudent Mikuláš Minář und sein Bündnis «Eine Million Augenblicke für Demokratie» zur Bewahrung von Havels Erbe auf. Wenn es dieser Generation gelingt, die Zivilgesellschaft zu vollenden, stünde Tschechien diesmal an der Spitze der postkommunistischen Staaten.

 
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