Neustadt an der Waldnaab
19.10.2018 - 19:00 Uhr

Müder Moralapostel ohne Komfortzonen

Es fühlt sich an, als würden zu vorgerückter Stunde zwei ziemlich müde Freunde zusammensitzen. Plötzlich werden Gespräche tiefer, die Themen bedeutender. "Wir können die Welt nicht retten!"- "Ja, wer denn sonst?" Hagen Rether versucht es.

Es braucht bei Hagen Rether nicht den erhobenen Zeigefinger, um seinen Botschaften Nachdruck zu verleihen. Selbst mit den Bio-Bananen, die er zu fortgeschrittener Stunde genüsslich mampft, macht der Essener seine Standpunkte deutlich. Bild: Tobias Schwarzmeier
Es braucht bei Hagen Rether nicht den erhobenen Zeigefinger, um seinen Botschaften Nachdruck zu verleihen. Selbst mit den Bio-Bananen, die er zu fortgeschrittener Stunde genüsslich mampft, macht der Essener seine Standpunkte deutlich.

In der Neustädter Stadthalle kommen am Donnerstag nicht 2, sondern 320 Freunde zusammen. Die Atmosphäre ist entspannt. Hagen Rether sitzt weltmüde und gemütlich auf seinem Chefsessel und plaudert locker. Aber das täuscht: Damit die Welt heilen kann, muss man in die Abgründe blicken, meint er. Und für diejenigen, die dies aus Angst oder Bequemlichkeit nicht tun, übernimmt Rether das gründlich.

Die schlimmsten Moralpredigten sind jene, bei denen man denkt: "Eigentlich hat er ja recht." Diese punktuellen Momente des erhobenen Zeigefingers, die jedem Besucher Denkanstöße mit auf den Heimweg geben, gehören zum Kabarett. Bei Rether ist es dagegen ein mahnender dreistündiger Bewusstseinsstrom. Der intellektuelle Weltverbesserer erweist sich in der vollen Stadthalle als Aufklärer mit eloquentem, herrlich zynischem Humor. Zunächst aberwitzig scheinende Bilder werden vor dem geistigen Auge erzeugt, um dann Kausalzusammenhänge freizulegen und in schmerzlich reale und unbequeme Wahrheiten zu münden.

Thailändische Sex-Touristen

Gerne verdreht der Essener den Blickwinkel - auch mal um 90 Grad. So macht der dicke thailändische Sex-Tourist-Rentner etwa, der sich auf Sylt von devoten deutschen Mädchen verwöhnen lässt, während deren Brüder in Neustadt/Waldnaab Fußbälle für die chinesische Champions-League nähen, die Intentionen eines Oberpfälzer Selbstmordattentäters nachvollziehbar. Oder warum der syrische Pfleger Alexander Gauland, wenn der ins Heim kommt, ein Penatenkreuz auf den Hintern pudert. Oder warum das Überraschende bei den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln nur war, dass sie VOR dem Dom passierten.

Es ist immer wieder beeindruckend, mit welcher bissiger Klarheit der "verschlafene" Mann auf der Bühne die Realitäten aufdeckt. Wie kaum ein anderer Kabarettist schubst er die Menschen aus ihren heuchlerischen Komfortzonen. Rether reitet seine Steckenpferde und fährt dabei einen harten Kurs gegen Raubbau an Umwelt, andern Völkern, kulturellen Errungenschaften, der Kindheit der nächsten Generation und der geistigen Gesundheit der heutigen.

Immerwährende Liebe

Wie immer heißt sein Programm "Liebe". Eingefleischte Fans erinnern sich, als er in seinem ersten Auftritt in der Stadthalle vor mehr als zehn Jahren das Konzept mit seinem ständig upgedateten Programm erklärte. Damals verdeutlichte er auch mit Baseballschläger und Bio-Bananen die Deutsche Einheit. Ein Baseballschläger wird in der siebten "Liebe"-Version ebenso wie der Zeigefinger nicht erhoben. Rethers Intention ist Herzensbildung, Vertrauen und ein sorgsames Miteinander.

Viel Raum nimmt die christliche Doppelmoral ein, die Rether schneller an die Wand nagelt, als Markus Söder seine Kreuze. Wenn bei ihm CSU-Auswüchse, Alkoholsucht oder Tausendfacher Missbrauch in der Kirche zusammengepackt und mit dem Etikett "Tradition" im Regal abgelegt werden, lachen nicht alle im Publikum. Aber das ist gut so. Unter Freunden darf das doch wohl noch gesagt werden. Und Liebe muss eben manchmal auch wehtun.

 
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