Fenster aus Papier: Briefkontakt mit Insassen des US-Todestraktes

Oberpfalz
28.11.2022 - 11:23 Uhr
OnetzPlus

Der US-Todestrakt. Eine Welt voll Gewalt und Schicksalen, in die Redakteurin Laura Schertl tiefe Einblicke nimmt. Ein Briefkontakt aus der Oberpfalz mit Gefangenen in den USA, die von ihrem Leben erzählen.

„Liebe Laura, vielen Dank für deinen Brief. Mir geht es gut, hier ist in letzter Zeit nicht viel passiert. Vor ein paar Tagen gab es einen Mord in unserem Zellentrakt. Zwei Männer, die nicht einmal aus ihren Zellen gedurft hätten, sind aufeinander losgegangen. Einer von ihnen hatte schon vorher einen Insassen umgebracht, weshalb er überhaupt im Todestrakt saß. Es ist eine verrückte Welt.“

So beginnt Dragos erster Brief an mich. Der erste von insgesamt neun Briefen, die ich von drei verschiedenen Häftlingen bekommen werde. Drago, Jeremiah und Oak berichten mir von ihrem Leben vor dem Gefängnis, ihren Taten, dem Alltag im US-Todestrakt. Es ist eine Geschichte voller Missbrauch, Leid und Tod. Da ist einerseits der Tod der Opfer. Andererseits ist da aber auch der Tod der Täter. Ihre Hinrichtung, die immer über ihnen schwebt. Es ist auch die Geschichte von Ines Aubert und Gabi Uhl. Beide setzen sich schon seit vielen Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Sie führen selbst viele Brieffreundschaften mit zum Tode Verurteilten. Beide waren schon dabei, als langjährige Brieffreunde hingerichtet wurden. Doch dazu später.

Beginnen wir am Anfang. Per Mail nehme ich Kontakt zu Ines Aubert von der schweizer Organisation „connectdeathrow“ auf. Seit sechs Jahren vermittelt sie einen zeitlich befristeten Austausch mit Todeskandidaten. So wie auch meinen. „Der Kontakt ist indirekt und beide Seiten kennen den ganzen Namen des anderen nicht. Ich habe schon viele solcher Kontakte hergestellt und sie sind durchgehend ein Erfolg“, erzählt Ines. Sie selbst begann ihre erste Brieffreundschaft vor 20 Jahren – und hält sie bis heute aufrecht. „Mein erster Brieffreund ist gleichzeitig auch mein ältester. Er ist inzwischen über 80 Jahre alt und ein sehr einfacher Mann, der am Anfang fast nur Bibelstellen zitierte. Das machte es etwas schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Nachdem ich ihn aber zum ersten Mal besucht hatte, und ich auch seine Familie kennenlernte, wurde er mir immer vertrauter. Er schreibt bis heute nur einfache und kurze Briefe, aber er bedankt sich in jedem Brief, dass ich sein ,guardian angel’ sei und dass ich in seinem Leben bleibe.“ Den Kontakt stellt sie damals über die Organisation „lifespark“ her – und wird kurz darauf auch Vorstandsmitglied. „Im Laufe der Jahre habe ich viele Projekte durchgeführt, Treffen organisiert, Texte geschrieben und Interviews gemacht. Dies alles rund ums Thema Todesstrafe. Vor sechs Jahren habe ich dann connectdeathrow gegründet. Mir war aufgefallen, dass viele Gefangene sich danach sehen, ,draußen’ wahrgenommen zu werden und hilfreich zu sein. Gleichzeitig mussten wir immer wieder minderjährige Leute abweisen, die eine Brieffreundschaft starten wollten. Sie sind zu jung, da es schon einige Lebenserfahrung braucht, um mit den schweren Themen umgehen zu können.“ So entsteht die Idee des zeitlich befristeten Briefkontakts, die auch ich nun wahrnehme.

Ines bittet mich, einen kurzen Brief zu verfassen, in dem ich mich vorstelle und ein paar erste Fragen stelle. Was einfach klingt, ist schwieriger als gedacht. Hunderte Fragen schwirren mir im Kopf herum. Bei einigen bin ich mir unsicher, ob ich sie überhaupt stellen kann. Ich schreibe etwa eine dreiviertel Seite und schicke sie an Ines. „Hoi Laura“, antwortet sie mir. „Es gibt zwei, die haben ganz frisch begonnen und würden gerne einen ersten Brief beantworten. Wenn du auf Nummer sicher gehen willst, schicke ich es außerdem noch Oak.“ Und so findet mein erster Brief seinen Weg in drei Zellen. Drei Zellen in drei verschiedenen Gefängnissen, die nur eines gemeinsam haben: Ihre Insassen sind Todeskandidaten.

"Das Jahr, in dem ich den Mord begangen habe"

„Hallo Laura. Ich bin 40 Jahre alt. Eingesperrt bin ich schon seit 1998. Ein Jahr war ich seitdem in Freiheit. Das war das Jahr, in dem ich den Mord begangen habe, für den ich jetzt hier sitze.“ Das ist Jeremiah. Sein erster Brief ist etwa eine halbe Seite lang. „Vor meiner Verhaftung hatte ich nicht wirklich ein Leben. Meinen ersten Job bekam ich mit 24 Jahren. Das war eine Ausbildung zum Elektriker. Was den Todestrakt angeht: Es ist nicht so schlimm, wie man es sich vorstellt. Zumindest hier nicht.“ Denn je nach Staat sind die Unterbringungsbedingungen für die Häftlinge völlig unterschiedlich. Gabi Uhl, die sich selbst seit vielen Jahren unter anderem mit der „Initiative gegen Todesstrafe e.V.“ für Häftlinge einsetzt, erklärt mir: „Auch wenn Gesetze und Haftbedingungen Sache der einzelnen Bundesstaaten sind, waren die vor vielleicht 20 Jahren doch nicht so sehr verschieden. Erst in jüngerer Zeit sehe ich da stärkere Unterschiede. So haben sich zum Beispiel die Bedingungen für Todestraktinsassen in Arizona in den letzten Jahren deutlich verbessert. Während sie bis zu der Änderung ihre Zeit in Einzelhaft verbrachten, dürfen sie jetzt für einige Stunden pro Tag die Zelle verlassen und können bei guter Führung einer Arbeit innerhalb des Gefängnisses nachgehen. Die Gefangenen haben sogar ein Tablet und können über geschützte Portale mit der Außenwelt kommunizieren, sodass man einen zeitnahen Kontakt mit ihnen haben kann.“

Jeremiah erzählt mir in seinem ersten Brief, dass er sich für einen Küchenjob bewirbt. Er besucht Seminare, möchte seinen Schulabschluss nachholen. Drago hingegen lebte 27 Jahre in Einzelhaft, bis die Häftlinge 2017 eine Änderung einklagten – mit Erfolg. „Das Gefängnis, die Einzelhaft verändert einen. Dinge, die dich schockieren würden, berühren mich nicht mehr. Ich habe gelernt, meine Emotionen abzuschalten. Wir haben Empathie, aber wir müssen auch lernen, Dinge zu ignorieren. Als wir aus der Einzelhaft umgezogen sind, war das angsteinflößend. Wir waren nie wirklich zusammen, man weiß nicht, ob jemand ausrastet und jemanden angreift. Tatsächlich gab es auch schon am zweiten Tag eine Schlägerei, bei der ich mir zwei Rippen gebrochen und eine heftige Gehirnerschütterung zugezogen habe. Aber das Gute war: Am selben Tag, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich meinen ersten Job bekommen, den ich dann vier Jahre lang hatte.“

Isolationshaft in US-Bundesgefängnissen

Gabi Uhl kennt die gravierenden Unterschiede zwischen den Haftbedingungen in verschiedenen Staaten: „In Texas beispielsweise befinden sich Todestraktinsassen in Einzelhaft für wenigstens 22 von 24 Stunden des Tages in einer etwa sechs Quadratmeter kleinen Zelle, in der sich nichts befindet als ein Bett, ein Hocker am Boden und ein Tischchen an der Wand festgeschraubt und eine Kombi aus Toilette und Waschbecken. Kein Fernseher, kein Computer, kein Smartphone, vielleicht ein Radio, wenn der Gefangene sich eines leisten kann, und Bücher, wenn seine Familie oder Freunde ihm welche schicken lassen. Kein Arbeitsprogramm, kein Tagesraum, in dem man sich mit anderen Gefangenen treffen kann.“ Bedingungen, bei denen Gefangene nachgewiesenermaßen Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen oder Psychosen entwickeln können. Das zeigt der 2014 von Amnesty International veröffentlichte Bericht „Entombed: Isolation in the US Federal Prison System" (Lebendig begraben – Isolationshaft in US-Bundesgefängnissen). Auch das „Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ spricht in seinem „21. General Report“ von deutlich höheren Suizidraten von Todestrakten mit Einzelhaft, verglichen mit den Insassen, die Ausgang und Kontakt zu Mitinsassen haben. Drago schreibt mir: „Suizid kommt hier häufig vor. Einer meiner besten Freunde hat sich in der Zelle neben mir umgebracht und vorher nie ein Wort darüber gesagt. Andere hören einfach auf, Berufung einzulegen und erlauben dem Staat, sie hinzurichten. Auch eine Form von Suizid.“

Die Brieffreundschaften zu Menschen außerhalb des Gefängnisses sind für die Insassen deshalb besonders wertvoll – und wie ein „Fenster zur Welt“, erklärt mir Gabi Uhl. Nicht selten haben Todeskandidaten außerdem keinen Kontakt zu ihrer Familie. Oak schreibt mir: „Mit meiner Familie habe ich keinen Kontakt mehr. Viele von ihnen sind schon gestorben. Meine Schwester traut sich wegen eines Sorgerechtsstreits nicht, mir zu schreiben. Ihr Exfreund versucht, unsere traumatische Kindheit gegen sie zu verwenden und sie als unfähige Mutter darzustellen.“ Oak ist 58 Jahre alt. Im Gefängnis ist er, seit er 15 ist. Nur 48 Stunden verbrachte er in Freiheit. Mit 27 Jahren, als er es schaffte, aus dem Gefängnis zu fliehen. „Als ich 15 war, bin ich von Zuhause weggelaufen. In meiner ersten Nacht alleine kam es zu einer Auseinandersetzung mit einem Polizisten. Er kniete sich auf mich und griff zu seiner Taschenlampe. Ich dachte, er würde mich damit schlagen. Ich habe Panik bekommen, nach seiner Waffe gegriffen und ihn damit erschossen.“ Oak wird am nächsten Tag verhaftet und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. „Hätte ich 1990 nicht den Fluchtversuch unternommen, würde ich jetzt vermutlich aus dem Gefängnis herauskommen.“ Oak schafft es in diesem Jahr zwar aus dem Gefängnis, doch dann geht alles schief: „Jemand sollte kommen und mich abholen, aber das ist nie passiert. Ich war so paranoid und habe mich dann dazu entschieden, etwas Schreckliches zu tun. Ich habe ein Auto gekidnapped, was zum Tod des Fahrers führte.“ Nur Momente danach wird Oak verhaftet – und sitzt seitdem im Todestrakt. 31 Jahre schon. Ines Aubert und Gabi Uhl kennen die Geschichten hinter den Todeskandidaten nur zu gut. Nicht immer ist es leicht, das Erzählte auszuhalten. „Einer meiner Brieffreunde, Casper, hatte eine sehr schlimme Vergangenheit mit furchtbaren Verbrechen, von denen er mir erzählte. Es war eine der herausforderndsten Erfahrungen für mich, mich dem zu stellen. Über Casper habe ich sehr viel geschrieben, und auch mit ihm zusammen Texte verfasst. Er war eine Grenzerfahrung, die ich aber auf keinen Fall in meiner Lebensgeschichte missen möchte. Einer anderen Person, die in eine ähnliche Situation kommt, rate ich dringend, Austausch zu suchen. Mit anderen darüber zu reden, hilft enorm“, erzählt Ines Aubert. Trotzdem entwickelt sich oftmals eine enge Bindung durch die Brieffreundschaften, die teils Jahrzehnte anhalten. So eng, dass die Todeskandidaten ihre Brieffreunde bei ihrer Hinrichtung dabei haben wollen.

„Als mein langjähriger Brieffreund Clifford Boggess die Frage stellte, ob ich bei seiner Hinrichtung als Zeugin dabei sein würde, hatte ich mir diese bereits beantwortet“, erzählt Gabi Uhl. „Für mich war der Gedanke, zu Hause zu sitzen und ständig auf die Uhr zu schauen und alles in meiner Vorstellung zu erleben, noch schlimmer als der Gedanke, tatsächlich dabei zu sein. Die Hinrichtung habe ich erlebt, als wäre ich im ,falschen Film’. Es war die Ambivalenz zwischen dem Gefühl, das könne alles gar nicht wahr sein, und dem Bewusstsein dessen, dass alles tatsächlich real war. Und es kam mir unglaublich überheblich vor, dass Menschen im besten Wissen, was sie tun, einen anderen Menschen vorsätzlich töten. Natürlich war es genau das, was Cliff getan hatte. Aber das war eben völlig falsch, es war ein schlimmes Verbrechen – und nun wollte uns der Staat Texas ein vergleichbares Handeln als gut und richtig verkaufen. Das passte für mich nicht und tut es bis heute nicht.“

Tödliche Injektionen

Die am häufigsten angewandte Hinrichtungsmethode in den USA ist die tödliche Injektion. Bis 2008 wurde im Staat Nebraska noch der elektrische Stuhl angewandt, dann wurde er für verfassungswidrig erklärt. Bei der Hinrichtung mit der tödlichen Injektion werden drei intravenöse Injektionen, bestehend aus einem Betäubungsmittel, einem Muskelrelaxantium und einem Mittel, dass den Herzstillstand bewirkt, verabreicht. Nicht selten werden aufgrund von Lieferengpässen allerdings andere Kombinationen getestet. Sind die Verurteilten Diabetiker oder haben eine Drogenvergangenheit, wirken die verabreichten Betäubungsmittel oftmals nicht optimal. Die nachfolgende Tötung wird so zum Martyrium.

Bei Clifford Boggess war das nicht so. „Als wir in den Zeugenraum geführt wurden, war er bereits auf einer Liege festgeschnallt und hatte Infusionsnadeln in beiden Armen. Er lächelte uns an, als er uns sah, sprach seine letzten Worte, und dann begann das Gift in seine Adern zu fließen. Es gab ein einziges Geräusch, als die Luft aus seinen Lungen entwich, dann minutenlangen Stillstand, der wie eine Ewigkeit wirkte, bis ein Arzt hereinkam und den Tod feststellte“, erinnert sich Gabi Uhl. Doch auch sie kennt die andere Seit der Hinrichtungen: „ Ich habe im Abstand von jeweils acht Jahren noch zwei weitere Male einen Brieffreund auf dem letzten Weg begleitet und diesen Zeugenraum von innen gesehen. Beim zweiten Mal war es das Wort ,barbarisch’, das meine Gefühle für das Gesehene am besten beschreibt. Beim dritten Mal war es die Anwesenheit des Sohnes meines Brieffreundes, die ich nie vergessen werde – wie er unter der vorsätzlichen Tötung seines Vaters gelitten hat, das hat mir geradezu das Herz gebrochen.“

Vieles spricht gegen die Todesstrafe. Kaum etwas dafür. „Alles spricht gegen die Todesstrafe. Sie ist, wie so oft gedacht, nicht abschreckend, sie ist nicht billiger und sie stellt keine Gerechtigkeit her“, betont Ines Aubert. „Eine Gefängnisstrafe sollte stattdessen die Möglichkeit zu reifen und zu wachsen beinhalten. Dazu gehört Austausch mit anderen und eine sinnvolle Tätigkeit. Das Ziel sollte eine Rehabilitation und eine Freilassung sein nach einer angemessenen Zeit im Gefängnis. Wenn ein Mensch unveränderbar gefährlich wirkt, soll er im Gefängnis bleiben, aber unter menschenwürdigen Umständen.“ Gabi Uhl ergänzt: „Meine Erfahrung hat mir vor allem gezeigt, dass die Hinrichtung eines Täters nur neues Leid erzeugt, ohne dass jemand etwas gewinnt. Das Opfer wird leider nicht wieder lebendig und die Opferangehörigen sind regelmäßig am Ende enttäuscht und finden ihren Frieden nicht durch die Hinrichtung des Täters. Dafür leidet eine weitere Familie – das habe ich mehrfach gesehen. Vom Risiko des Justizirrtums, der nicht mehr korrigiert werden kann nach der Hinrichtung des Täters, gar nicht zu reden. Und letztlich spricht der bekannte Satz für sich: ,Warum töten wir Menschen, die Menschen töten, um zu zeigen, dass das Töten von Menschen falsch ist?‘“

Tatsächlich konnte bisher keine wissenschaftliche Studie belegen, dass die Todesstrafe eine größere abschreckende Wirkung hat als eine lange Haftstrafe. Im Gegenteil: In den USA ist die Mordrate in Staaten ohne die Todesstrafe oft niedriger als in Staaten, die an ihr festhalten. Dazu kommt: Die Kosten einer Hinrichtung vom Prozess bis zur Vollstreckung übersteigen die Kosten einer lebenslangen Haftstrafe um ein Vielfaches. Oak schreibt mir: „Ob ich an die Todesstrafe glaube? Nein. Nichts an ihr ist auch nur ansatzweise fair. Es gibt viele, die im normalen Vollzug leben, die viel schlimmere Dinge gemacht haben als viele von uns im Todestrakt. Trotzdem bekommen sie nur lebenslänglich.

Jeremiah hingegen schreibt mir: „Es gibt Menschen, die böse sind und es nicht verdient haben, zu leben. Es gibt Menschen, die sich nie ändern werden – sollte man ihnen die Chance geben, wieder ein Verbrechen zu begehen? Sagen wir mal, jemand kommt irgendwie aus dem Gefängnis frei und bringt jemanden um. Wäre dieser Mensch hingerichtet worden, würde das Opfer noch leben.“ Drago erzählt mir etwas, das Gabi Uhl mir später bestätigen wird: Im Todestrakt sind fast ausschließlich Menschen aus sozialen Unterschichten. „Ich glaube nicht an die Todesstrafe. Früher habe ich gedacht, dass manche sie verdienen. Jetzt nicht mehr. Nur arme Menschen sind hier. Reiche Insassen gibt es im Todestrakt nicht. Es geht nur um Rache, nicht mehr.“

"Nicht jeder hier ist ein Monster"

Trotzdem kann sie die Wut auf die Täter und den damit verbunden Wunsch nach Vergeltung nachvollziehen. „Zunächst halte ich es für völlig verständlich, dass schlimme Straftaten nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern jeden Menschen, der Empathie besitzt, wütend machen können. Das geht mir nicht anders. Dass der Wunsch, den Täter tot zu sehen, dann naheliegt, ist nachvollziehbar – gerade, wenn jemand persönlich betroffen ist. Sehr häufig sind unter den Befürwortern der Todesstrafe aber Menschen, die nicht selbst als Opfer oder Opferangehörige betroffen sind, sondern einfach emotional mit Hass und Rachegefühlen reagieren.

Natürlich muss die Gesellschaft vor Schwerstverbrechern wie Clifford Boggess geschützt werden. Die Alternative: „Sie sollten ihr Leben in einer gesicherten Einrichtung verbringen und dabei einer Tätigkeit nachgehen, die einerseits ihrem Leben noch einen Sinn gibt und die andererseits der Gemeinschaft etwas zurückgibt“, findet Gabi Uhl. Oak schreibt mir: „Mit ernsthafter Unterstützung können gerade die jungen Leute hier ihr Leben wirklich verändern. Stattdessen werden sie in die gewalttätigsten Gefängnisse gesteckt und müssen dort irgendwie überleben. Und die Gesellschaft erwartet dann, dass so aus ihnen gute Menschen werden.“

Im Todestrakt vergeht die Zeit langsam. Die Insassen schaffen sich deshalb selbst einen Sinn. Oak steht jeden morgen um 3 Uhr auf. Drei Stunden meditiert, zwei Stunden trainiert er. Manchmal schreibt er. Oak reflektiert viel über seine Taten: „Was mein Verbrechen angeht, dass ich mit 15 begangen habe: Ich finde, dass ich viel zu hart verurteilt wurde. Ich war zu jung, um zu verstehen, was für ein Leid meine Taten verursacht haben. Ich habe nicht nur einer Frau ihren Mann weggenommen, sondern auch den Kindern ihren Vater. Für mein zweites Verbrechen habe ich keine Entschuldigung. Ich hätte mich schon längst fragen sollen, warum ich ständig so schlechte Entscheidungen traf. Erst danach bin ich wirklich erwachsen geworden und habe Verantwortung für mein Handeln übernommen.“

„Ich werde niemanden in Schutz nehmen, der denselben Weg einschlägt wie ich“, schreibt Oak. „Auch wenn mir klar ist, dass die meisten in ihrer Kindheit schreckliche Dinge erlebt haben oder psychische Probleme haben. Trotzdem: Keine Entschuldigung. Wir haben uns hierher gebracht und wenn jemand uns deshalb für Monster hält, kann ich das aushalten. Trotzdem bin ich heute ein ganz anderer Mensch als in meiner Jugend, als ich all das begangen habe.“ Auch Drago hat sich verändert. „Ich wünsche mir, dass die Menschen mich nicht als den Idioten in Erinnerung behalten, der ich früher war, sondern als den Menschen, den die letzten 30 Jahre aus mir gemacht haben. Nicht jeder hier ist ein Monster. Ich weiß, dass ich versagt habe und ich bereue diese Taten zutiefst. Aber ich kann nicht erlauben, dass diese Taten den Menschen bestimmen, der ich heute bin. Ich wollte mich verändern und etwas Positives schaffen und ich denke, das habe ich.“

Oftmals dauert es Jahre, bis Insassen in der Todeszelle ein Hinrichtungsdatum erhalten. Viele Anträge auf Berufung stehen dazwischen, die die Anwälte der Häftlinge voll ausschöpfen können. „Je nachdem, wie lange wir das ausnutzen können, verschafft uns das Zeit“, erzählt Drago. Er selbst hatte schon ein Hinrichtungsdatum, dass dann Dank der Möglichkeit auf Berufung nicht Wirklichkeit wurde. Doch die Anzahl der Berufungen ist begrenzt. In seinem letzten Brief schreibt Drago: „Damals, als ich das erste Datum erhalten habe, war das ein Schock. Aber ich wusste, dass es nicht real ist, weil ich noch Berufungen offen hatte.“ Heute hat Drago keine Anträge mehr, auf die er zurückgreifen kann. „Wenn ich jetzt ein Datum bekomme, dann wird das mein Todestag sein.“

Einblicke in verborgene Welt :

Laura Schertl über ihren Briefkontakt mit Insassen von US-Todestrakten

Als ich den ersten Brief verfassen sollte, so etwas wie eine Vorstellung mit ersten Fragen, da schwirrten mir wahnsinnig viele Fragen durch den Kopf. Was kann ich fragen? Wie höflich muss ich sein, ohne eingeschüchtert zu wirken? Deshalb habe ich für den allerersten Brief viel länger gebraucht, als ich das vorher gedacht hätte. Lange warten musste ich auf die Antworten allerdings nicht. Schon nach etwa einer Woche schickte Ines mir die ersten Briefe zu, das war wahnsinnig interessant. Wir waren Menschen aus zwei Lebenssituationen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Alle drei erzählten mir mehr oder weniger ausführlich von ihren Taten. Beeinflusst hat mich das aber nicht wirklich. Mein Eindruck war: Ich bekomme Briefe von Menschen, deren Taten sehr weit zurückliegen, die sie zutiefst bereuen und die in den vergangenen Jahrzehnten eine große Veränderung durchlaufen haben. Macht das ihr Taten weniger schlimm? Nein. Trotzdem stand in meinem Kontakt die Menschen im Vordergrund, die sie heute sind. Die insgesamt neun Briefe waren wahnsinnig interessant, aber auch bedrückend. Wegen der Taten, der Geschichten und der Tatsache, dass den Menschen, die sie mir geschrieben haben, der Tod bevorsteht.


    Redakteurin Laura Schertl nimmt Briefkontakt mit verurteilten Straftätern auf.
OnetzPlus
Schwandorf24.05.2022
Klicken Sie hier für mehr Artikel zum Thema:
 
 

Kommentare

Um Kommentare verfassen zu können, müssen Sie sich anmelden.

Bitte beachten Sie unsere Nutzungsregeln.