Jeb Loy Nichols - United States of the Broken Hearted (Rough Trade)
Mit den Fellow Travellers verband er in jungen Jahren Country und Dub-Reggae, eine bis dahin ungehörte Symbiose, die aber ungemein zu grooven wusste. Aus dieser Zeit stammt auch die enge Freundschaft mit Produzenten- und Musiker-Legende Adrian Sherwood (man teilet sich die gemeinsame WG in London), der diese Platte produziert hat. Von Dub sind hie noch Spurenelemente auszumachen, die vereinigten Staaten der gebrochenen Herzen ist eher eine Art persönliches „American Songbook“ des Künstlers geworden. Durchwegs akustisch gehalten flicht Nichols auf einem Bett aus (Dark-)Country Soul, Bluegrass, Blues, Jazz und Folk ein, hält dies mit seiner markanten, warmen Brummbär-Stimme zusammen. Er covert Barbara Dane`s Protestsong, "I Hate The Capitalist System" und Pete Seegers “Deportee” und lässt sich von Kollegen wie Martin Duffy (Primal Scream/Felt), Bläsern, Cello und einigem mehr unterstützen. Atmosphärisch so dicht wie melancholisch dunkel leuchtend.
Sorry – Anywhere But Here (Domino)
Laut Presseinfo macht die Londoner Kapelle auf „klassische Songwriter der 1970er Jahre wie Carly Simon und Randy Newman“. Kann man voll vergessen, aber so was von. Was Asha Lorenz und Louis O'Bryen, Schlagzeuger Lincoln Barrett, Multi-Instrumentalist Campbell Baum und Marco Pini an den elektronischen Instrumenten hier zusammengebaut haben, erinnert eher an einen spintisierenden Eskapismus mit Field Recordings, Grunge, Trap, TripHop, und Shoegaze. Der Gesang ist manchmal verweht, manchmal so schräg und verstimmt wie die Instrumente selbst (was aber wohl Absicht ist). Anfang der 90er gab es mal eine Handvoll Bands, die ähnliche Experimente wagten, aber bald wieder in Vergessenheit gerieten, zu weit weg wagte man sich von der Massentauglichkeit. Sorry entschuldigen sich ja schon im Namen für den schräg-kakophonischen DIY-Sound, der aber auch irgendwie süß wie bei den Moldy Peaches sein kann.
Blue October - Spinning The Truth Around (Part I) (Bertus)
Bipolare Störungen sind schwere chronisch verlaufende psychische Erkrankungen, die durch manische und depressive Stimmungsschwankungen charakterisiert sind. Die Manie stellt sich als übersteigertes Hochgefühl dar und die Betroffenen sind gleichzeitig meist überaktiv, euphorisch oder gereizt. Auf diese Phase folgen mehr oder weniger ausgeprägte Depressionen, mit gedrückter Stimmung, Antriebslosigkeit und Traurigkeit. Die Stimmungsschwankungen treten episodisch und unabhängig von der augenblicklichen Lebenssituation auf. Blue October liefern den Soundtrack dazu, denn nach eigenen Angaben wird hier "Bipolar Artrock" kredenzt. Kann man nun glauben oder nicht, aber der Begriff wurde wohl geprägt, weil Sänger Justin Furstenfeld recht geplagt mit derlei Krankheit ist. Ein großer Teil der Weltbevölkerung empfindet anscheinend ähnlich, kann die Kapelle doch auf über 1 Milliarde Streams zurückblicken. Es scheint sich hier jedoch um viele Mehrfachtäter zu handeln, denn Mainstream sind Blue October trotz Yacht-Rock meets RnB-Schleichern wie „How Can You Love Me If You Don't Even Like Me“ noch lange nicht. Vorwiegend wird melancholisch musiziert, Jimmy Eat World, Radiohead, aber auch Alt-J klingen an. Ob dieser „Part I“ eher der depressiven oder der euphorischen Seite zuzuordnen ist, werden wird erst nach „Part II“ erfahren, von Klassikeinlagen wie in „When Love Isn't Good Enough“ kann man dabei gerne ablassen - oder derlei den Herren Sting und Pavarotti überlassen.
STR4TA - STR4TASFEAR (Brownswood Rec)
STR4TA ist das New-Wave-Jazz-Funk-Projekt des DJs, Moderators, Produzenten und Plattenlabelinhabers Gilles Peterson und des legendären Musikers und Brit-Funk-Verantwortlichen Jean-Paul "Bluey" Maunick (Incognito, Freeez und Light of the World). Als langjährige Freunde und Kollaborateure erschließen sie mit STR4TA neue musikalische Möglichkeiten, inspiriert von einer gemeinsamen prägenden Zeit. Unterstützt von einer ganzen Anzahl an Gästen wie Neo-Soul-Pate Omar, Valerie Etienne, die bei „Find Your Bounc", das von Rob Gallagher (Galliano, Talkin' Loud) mitgeschrieben wurde ebenso ihre Stimme beisteuert wie Emma-Jean Thackray auf „Lazy Days“, der aus Florida stammende Trompeter und Sänger Theo Croker und nicht zuletzt das Duo Anushka aus Brighton, dessen fließender Electronica-Sound seine Wurzeln in die Geburtsstunde des Brit-Funk zurückreichen. Perlende Synthis und Keyboards, massiv geslappte Bassläufe und coole Gitarren-Riffs sind die Markenzeichen dieses Groove-Monsters.
LIUN + The Science Fiction Band - Lily of the Nile (Heartcore Rec)
Die von der Kritik vielgelobte und 2021 mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnete Sängerin Lucia Cadotsch ist eine der bekanntesten Stimmen des europäischen Jazz. Ihr reines Timbre und ihre sorgfältige Phrasierung verleihen jedem Text, den sie singt, Wärme und emotionale Klarheit. Wanja Slavin ist Saxophonist, Komponist und Produzent, seine kinetischen, rhythmischen Phrasen und seine kühne Melodieführung als Komponist und Saxophonist haben ihm internationale Anerkennung als Bandleader und Kollaborateur eingebracht.
Zusammen bilden Cadotsch und Slavin den Kern des LIUN + The Science Fiction Band – Live Orchestra, einer mehrköpfigen musikalischen Hydra, die eine clevere Umkehrung der modernen Remix-Kultur darstellt, bei der digital produzierte Musik von anderen elektronischen Musiker*innen geremixt wird. „Lily of the Nile“ funktioniert überzeugend in die entgegengesetzte Richtung, indem die digital produzierten Songs ihres Debüts mit akustischen Instrumenten neu interpretiert werden und dabei veranschaulicht wird, wie ein Vokal-Jazz-Ensemble sich heute anhören kann. Für Freunde von Karen Mantler And Her Cat Arnold.
Her Shadow - The Ghost Love Chronicles (Membran)
Eine vordere Platzierung beim kitschigsten Artwork des Jahres ist der enigmatischen Band schon mal sicher. Aber hinter ihrem Schatten verbergen sich verträumte Popmusik mit Mondscheinmelodien, himmlischen Hooks und Lynch’schen Wendungen. Die ätherischen Klanglandschaften erwachen in einem Dream-Noir-Universum voller eingängiger Refrains zum Leben, Morricone-Motive und Vintage-Sounds verweben sich mit modernster Produktion zu einem nun gar nicht mehr kitschigem Sound- und Genre-Mix, dem die süße Marilyn Monroe-Verführung Anna Carolina ihren stimmlichen Stempel aufdrückt. Man sollte sich also vom ersten Eindruck nicht täuschen lassen, wächst dieses Album aus Finnland doch bei jedem Hören -zumindest für Fans von ätherisch-psychedelischem Dream- und Shoegaze-Pop mit einem Hang zu Pomp und Opulenz, den großen, überzeichneten Gesten halt. Kann auch schon mal in eine über 13-minütige, cinemascopisch-weite, mäandernde Suite wie „What Hides in the Dark“ münden.
Kids Return – Forever Melodies (Hamburger Rec)
Nachdem eine geplante Reise nach Los Angeles aufgrund der Corona-Pandemie platzen muss, finden sich die Kindheitsfreunde Adrien und Clément – wie viele andere – auf engen Raum mit viel Zeit wieder. Der Realität entfliehend, vertiefen sich die beiden in Takeshi Kitanos Filme und in die Soundtracks von Joe Hisaishi. An einem Abend schauen Adrien und Clément Kitanos Kids Return, am nächsten Tag zieht es Adrien – ein Soundtrack-Liebhaber, der seinesgleichen sucht – zu einer Coverversion der Titelmelodie von Kikujiro hin. Das französische Psych-Pop-Duo Kids Return ist geboren. Auf dem Debüt liefern Adrien Rozé und Clément Savoye vielfältige Themensongs. Mit “Going Places“ und “Lost in Los Angeles“ erzählen die beiden von ihren Reiseerlebnissen; in “Our Love“ und “Make you Stay“ thematisieren sie die Liebe und in “Orange Mountains“ und “My Life“ geben sie dem Gefühl der Melancholie Raum. Die „Forever Melodies“ sind dabei schon jetzt zeitlose Klassiker, Evergreens halt zwischen dezentem RnB, Philly-Sounds, Yacht- Psych- und Synthi-Pop, 70er Rock, Frankophilem (z.B. Air) und natürlich Soundtrack-Melodien von Ennio Morricone bis zu Francis Lai, Michel Legrand, Vladimir Cosma oder Burt Bacharach.
Old Sea Brigade – 5am Paradise (Nettwerk)
Wenn Ben Cramer Alben aufnimmt, dann meist allein, nur zusammen mit seinen Produzenten. Beim Schreiben an sich, helfen dann aber doch Kollegen wie z.B. Luke Sital-Singh oder Trent Dabbs (Kacey Musgraves, Ashley Monroe). So gelingen in der Abgeschiedenheit einer Berghütte mit Blick auf die Blue Ridge Mountains in North Carolina zehn wunderbare Singer/Songwriter- und Folk-Songs mit ein klein wenig Pop-Appeal, die vor allem eines sein wollen: sanfte Rückblicke auf das (sein) Leben. Auf der zweiten Hälfte des Albums wird mit Songs wie „Monochrome“ erstmals ein wenig Fahrt aufgenommen, der Pop-Aspekt in den Vordergrund gestellt. Da kommt dann so etwas wie eine Nähe zu Passenger auf, mit dem er u.a. schon auf Tour war. Insgesamt aber ist das morgendliche Paradies ein introspektives, intimes Album mit jeder Menge Herzblut und Bodenständigkeit.
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