Motionsick - Inner Side
Voll auf die Zwölf geht diese Band aus Österreich. Der Sänger schreit sich den Schmerz und die Seele aus dem Leib, seine Jungs klingen mal quecksilbrig, mal tonnenschwer, aber immer emotional tiefschürfend – und sie haben es drauf, auch mal das Tempo und die Wucht zu Gunsten eines kleinen zarten Zwischenspiels zu drosseln. Das gibt dem Grunge/Hardcore-Gewitter die wichtigen, kleinen Verschnaufpausen ohne die die Dringlichkeit im Malstrom von Bass, Gitarre und Donner-Schlagwerk ersticken würde.
Phil Ranelin, Wendell Harrison, Adrian Younge & Ali Shaheed Muhammad - Phil Ranelin and Wendell Harrison (JID)
Numero 16 der "Jazz Is Dead"-Reihe. Der Posaunist Phil Ranelin und der Saxophonist Wendell Harrison gehören zu den letzten, die von der wiederauflebenden Popularität des Jazz überrascht waren. Gemeinsam haben sie sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang dafür eingesetzt, Jazzunterricht und -konzerte für alle zugänglich zu machen. In den frühen 1970er Jahren gründeten Ranelin und Henderson in Detroit Tribe Records, ein kleines Jazzlabel, das sich zu einem Modell für unabhängiges Unternehmertum entwickelte. Für die damalige Zeit war das geradezu revolutionär. In Zusammenarbeit mit einer starken Community an Unterstützern entwickelte Tribe eine Plattform, die es den Künstlern ermöglichte, die Vermarktung und den Verkauf ihrer eigenen Werke selbst in die Hand zu nehmen. Das Ergebnis sind einige der seelenvollsten und eindringlichsten Jazzplatten aller Zeiten, zeitlose Klassiker, deren Ethos und Ambition ein Vorbild für nachfolgende Generationen von Musikern war.
Sowohl Ranelin als auch Harrison hatten bereits vor den gemeinsamen Aufnahmen begonnen, ihre Musikkarrieren voranzutreiben. Harrison war mit Hank Crawford, Grant Green und Sun Ra auf Tournee gegangen und hatte aufgenommen. Ranelin, der aus Indianapolis stammt, zog nach Detroit, um mit dem Schlagzeuger Sam Sanders zusammenzuspielen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die Bühne mit Wes Montgomery und seinem Jugendfreund Freddie Hubbard geteilt. Das Schicksal führte sie bei Metro Arts zusammen, einem einzigartigen, staatlich geförderten Institut, das ein breites Spektrum an interdisziplinären Kunstkursen von Jazz bis Tanz anbot, die auch für Jugendliche zugänglich waren. Hier begannen viele zukünftige Mitglieder von Tribe, den Rahmen für das zu schaffen, was kommen sollte.
Bei ihrer Zusammenarbeit mit Adrian Younge & Ali Shaheed Muhammad bleiben die Beiden der Mischung aus frei assoziierendem Bebop über Soul und Funk bis hin zu Klassik und Avantgarde treu.
Rosie H Sullivan - 123° East (Nettwerk)
Sie sieht (so gut) aus wie Heather Nova, wurde aber nicht auf den sonnigen Bermudas, sondernd der rauen Nordseeinsel Isle Of Lewis geboren und lebt jetzt im wunderschönen Edinburgh. Wie die berühmte Kollegin widmet Sie sich dem introspektiven Folk-Pop-Liedgut, kommt dabei mit sanft-intensiver Stimme und ein paar Gitarrenakkorden meist ans Ziel und berichtet von Themen wie persönlichem Wachstum, Existenzängsten und den Umzug von einer Insel auf das Festland.
Sophie Lindinger – Sophie Lindinger (Self Release)
Eine Solo-Platte – die Singer/Songwriterin hat sonst mehrere Jobs bei My Ugly Clementine inne – nach sich selbst zu benennen macht vor allem dann Sinn, wenn man auf der Sinnsuche nach sich selbst ist. Und dann auch gleich einen Linolschnitt eines Selbstbildnisses als Cover Artwork zu verwenden, zeugt von Kunstverstand und Stil. Die Lindinger aus Wien macht genau das, singt über ihre Erfahrungen mit Antidepressiva, die Geräusche einer Kaffeemaschine und – natürlich – einer zerflossenen Liebe. Die verletzliche Stimme im Zentrum, gibt es nicht nur wohlfeinen Akustik-Folk & Pop zu hören, es darf auch mal gerockt werden, ja die E-Gitarren klingeln gar vorlaut, auch wenn man eher im verhaltenen Shoegaze-Tempo bleibt. Moll passt halt auch zu gut in dieses trüb-nasse Winterwetter.
Pony Pracht – Lomb (Schatulle Bömm)
Das Pferdchen heißt mit bürgerlichem Namen Lisa Zwinzscher und stammt aus Leipzig. Vielleicht hat sie Kunst, experimentelle Musik oder irgendetwas in der Art studiert, jedenfalls fügen sich hier wabernde Synthi-Schleifen, dezentes Perkussions-Geklöppel und eine verhallt-feenhafte Stimme zu einem kleinen, organischen Mikrokosmos zusammen, der materialisiert wohl eine Lava-Lampe ergeben würde. Passt auch sicher gut zu psychogenen Drogen, Wein & Bier ist hier zu profan.
Hey Hey My My – High_Life (Vietnam Label)
Ganz schön mutig, sich nach einem berühmten Neil-Young-Song zu benennen, aber so kommt man zumindest ins Gerede. Die Franzosen legen hier bereits ihr drittes Album vor -und es klingt nach ziemlich vielen Einflüssen, nur nicht dem erwartbaren Kanadier. Das ist gut so, beim Annähern an sakrosankte Koryphäen haben sich schon manche übel die Finger verbrannt. Was indes hier abgeht ist ein schier unbeschreibliches Feuerwerk eklektischer Soundbastelei und Melodienerfinderei die von den 70ern bis in die 90er reicht. Ein altes Transistorradio ziert das Cover und da haben die beiden Musiker, Julien Gaulier und Julien Garnier wohl mal wild zwischen den Sendern hin & her geswitcht und so manche Inspirationsquelle erschlossen. Man stieß auf Yacht-Pop, Disco, Latin, Psycho-Rock & Pop, Kinderlieder, Power-Pop, Schlager, Philly-Sounds -was man halt im Radio die letzten Jahre so gehört hat. Und wie die Flaming Lips oder They Might Be Giants saugten die Jungs all das auf stopften es in ein Reagenzglas und destillierten daraus ihren ganz eigenen HHMM-Sound. Alles schon mal gehört? Klar, aber schon lange nicht mehr so viel Spaß dabei gehabt!
The Notwist - Vertigo Days - Live From Alien Research Center (Morr)
Das gleichnamige Studio-Album von 2021 glänze vor allem durch die Beiträge von Tenniscoats-Sängerin Saya, Angel Bat Dawid, Ben LaMar Gay, Juana Molina und anderen sowie des neuen Mitglieds Theresa Loibl an der Bassklarinette. Die ist beim im Studio arrangierten Live-Set zwar auch wieder mit dabei, der Rest musste „kompensiert“ werden. The Notwist haben ihr Album quasi als psychedelisches Kraut-Rock-Kunstwerk neu erfunden und anstelle die Leerstellen mit Computereinspielungen und Samples zuzupflastern, haben sie sich einfach neue Sounds einfallen lassen. Es fällt schwer, die beiden Alben gegeneinander abzuwägen, beide haben ihre absolute Berechtigung und glänzen hell im eh schon leuchtendem Notwist-Ouevre.
Gemma Ray - Gemma Ray & The Death Bell Gang (PIAS)
Was dabei herauskommt, wenn man mal auf eine Tasse Tee bei Ralf Goldkind, einst eine Hälfte von Lucilectric und Produzent von Nina Hagen oder die Fantastischen Vier vorbeischaut, kann man hier nachhören. Die Wahlberlinerin lässt Sixties und Soul hinter sich und widmet sich den Klängen der Finsternis, feiert das Armageddon. Dazu passt Gastmusiker Kristof Hahn (Swans) an der Lap Steel natürlich wie die Faust aufs Auge. Sphärische Moll-Töne, viel Hall, Geräuschfetzen, Samples, Field Recordings und synthetische Drum-Sounds werden zu Avant-Gothic-Rock-Kollagen verknüpft, aus denen mit „Howling“ ein wunderbar positiver, hell leuchtender Stern heraussticht.
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