Lonnie Holley – Oh Me Oh My (Cargo)
Der Mann ist eher für seine Müll-Skulpturen bekannt denn als Musiker. Hier wurde er im zarten Alter von 62 Jahren entdeckt, aber das ist jetzt auch schon wieder über 10 Jahre her. In einer Art Spoken-Word-Performance lässt er das immer noch von Rassismus geprägte Leben der Afroamerikaner Revue passieren, ohne dabei wirklich Anklagen zu erheben. Lonnie Holley ist ein Versöhner, ein Martin Luther King und kein Malcom X. Prominente Unterstützung bei seinem friedlichen Feldzug erhält er u.a. von Michael Stipe, Sharon Van Etten oder Bon Iver. Sie alle verschmelzen in einem zähen Amalgam aus Deep-Funk, Fusion, Jazz, Blues, Gospel, Ambient und Soul, so als würde Joe Henry gemeinsam mit Eno, Gil Scott-Heron und den Lounge Lizzards eine Jam-Session veranstalten. Sehr besonders.
Talking to Turtles – And What´s On Your Mind? (Indigo)
Hinter dem schönen Bandnamen verbirgt sich das Musiker-Ehepaar Claudia und Florian Sievers aus Leipzig. Die brachten zwischen 2010 und 2014 drei wunderschöne Indie-Folk-Platten heraus, die letzte hieß dann passenderweise „Split“. Und genau da, bei diesen relaxten, verträumten, unbeschwert dahinplätschernden Melodien knüpft auch das aktuelle Werk an. Minimalistisch instrumentiert, konsequent zweistimmig gesungen, auch mal mit Holzbläsern aufgepeppt und in einer Scheune (wenn man es nicht wüsste, man könnte es fast hören) analog auf altem Equipment aufgenommen, sind diese Songs eine Art Wellness-Urlaub für gestresste Seelen. Die Flowerpornoes kommen einem in den Sinn, Belle & Sebastian oder auch Elliot Smith, wenn man diesen absurd-schönen Geschichten über Plastikblumen oder das Grapefruit-Messer lauscht.
meija – Do Ya? (Nettwerk)
Früher mal war der Singer/Songwriter Jamie Sierota aus L.A. Teil der Band Echosmith. Als Solist pflegt er mit brüchig-verhuschter Stimme eine Art Slacker-Rock mit dem Willen zum Pop. Dort darf man sich stimmlich dann auch mal ein wenig aus dem Fenster lehnen und mit angezogener Handbremse Gas geben. Er selbst nennt Paul Simon, David Byrne, und Peter Gabriel als auch die Solo-Werke der Beatles als seine Inspirationsquellen, davon hört man eher wenig, dafür wäre der frühe Beck ein passenderer Vergleich. So schön und bisweilen nett diese Melodien auch sein mögen, leiern sie doch irgendwie schräg und funktionieren weit weg vom Mainstream.
Josienne Clarke – Onliness (Curduroy Punk Rec)
Die Singer/Songwriterin aus Schottland hat sich anscheinend nicht ganz im Guten von ihrer Plattenfirma getrennt, denn dieses Album ist eine Retrospektive ihrer Karriere, die durch eine neue Linse betrachtet wird, und besteht aus überarbeiteten Versionen von Fan-Lieblingen und versteckten Perlen aus einem Backkatalog, als auch ein paar neuen Kompositionen. Das (Folk-)Liedgut ihrer Heimat breitet sie in kunstvollen, wehmütigen, karg und fragil gehaltenen, akustischen Song-Skizzen aus, die durch ihre Reduktion die glasklare Stimme der Protagonistin noch heller stahlen lassen.
Sunshine Makers – A Side (Flying Colours)
Brent Jackson und sein Produzent Ben Fox stehen einem bunten MusikerInnen-Kollektiv vor, dem aktuell u.a. Sängerin Caitlin Woelfle-O'Brien (Blunt Chunks), Keyboarder Jem Roberts, Saxophonist Dennis Passley (Arkells), Barbagallo (Tame Impala), Odario Williams (Grand Analog), Aquakultre oder Chester Hansen (BadBadNotGood) angehören. Auf einem Bett aus Soul und RnB breiten sie ihre dezenten Rap-Einlagen und Acid-Jazz-Einflüsse aus. Das klingt ungemein organisch, frisch, unverkrampft und locker hingeworfen, obgleich es große Liedkunst ist.
Wild Child – End Of The World (Cargo)
Für Alexander Beggins und Kelsey Wilson ist das Ende der Welt in Watte gepackt – zumindest musikalisch. Hier dominieren sanfte Folk-Melodien oder es wird wie in „Cheap Champagne“ üppig in die Retro-Soul-Kiste mit opulentem Bläser-Sound gegriffen. Das sind dann auch die Pole, zwischen denen sich diese schöne Platte bewegt, einerseits intim und zurückhaltend, andererseits voller Feuer und Eloquenz – und in „Dear John“ können sie auch streicherverzierten Rock. Das verbindende Element ist das warme, meist analoge Sound-Design und natürlich diese ergreifend-schöne Stimme von Frau Wilson. Hat das Zeug zu einem Klassiker.
Ripe – Bright Blues (Bertus)
Boston kommen aus Boston, Ripe auch. Warum das gut zusammenpasst? Beide machen Musik für die Massen. The Ripe sind zwar noch mit einem Fuß im Indie-Pop-Rock verhaftet, man übt aber schon die großen Gesten. Funky Basslinien machen das Ganze tanzbar, der fest in die Band integrierte Posaunist verbreitet Big Band-Flair wie es uns einst Phil Collins vorgemacht hat. Aber auch die Red Hot Chili Peppers haben ihre Duftmarke hinterlassen, wie auf „All Or Nothing“ nachzuhören ist. Ripe machen also schon ziemlich viel richtig, vielleicht ein wenig zu viel. Man will den großen Wurf und hat dafür Noah Conrad und Ryan Linvill als Produzenten geholt. Beide sind keine unbeschriebenen Blätter: Noah Conrad arbeitete mit Niall Horan und der K-Pop-Gruppe BTS zusammen. Ryan Linvill war einer der Produzenten von Olivia Rodrigos Erfolgsdebüt "Sour". Außerdem hat er mehrere Stücke auf Dermot Kennedys "Sonder" mitgestaltet.
Petite Noir – MotherFather (Rough Trade)
Der Papa von Yannick Illunga war mal Premierminister der DR Kongo. Das nur zum (finanziellen) Background des in London lebenden Allround-Talents. Das vereinigte Königreich mit seiner Hauptstadt bietet ja ein Füllhorn an Inspirationen, und wenn man noch nicht genau weiß, wo die Reise hingehen soll macht man unter Umständen genau solch ein Album. Ein wenig Punk-Versatz, gerade mal 01:42 Minuten lang zum Einstieg, um schon mal die komplett falsche Richtung vorzugeben. Es folgt modernen R'n'B mit Rapperin Sampa The Great, ein wenig Trip-Hop, Godley & Creme-haftes mit „Lili“ oder auch „Simple Things“ mit Theo Croker, das ein Spätwerk von Matt Bianco sein könnte. Ein Hansdampf in allen Gassen, aber ein versierter.
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