Dostojewski wusste, wovon er schrieb. Jahrelang selbst in einem Gefangenenlager interniert machte er seine "Auszeichnungen aus einem Totenhaus". Danach textete Leos Janácek seine gleichnamige Oper ganz nah an der Sprache des Originals. "Aus einem Totenhaus" macht die Pein der Menschen hörbar. Es gibt keinen Helden, keine echte Spielhandlung, nur die Geschichten hinter den Inhaftierten und den tristen Lageralltag. Mit viel Feingefühl und zunehmender Dynamik entfaltet das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Simone Young das musikalische Spannungsfeld dieser Oper, zwischen extrem körperlicher und seelischer Misshandlung und manch lyrischer Erinnerung und freiheitlicher Vision.
Leos Janáceks "Aus dem Totenhaus" ist nicht ganz so pessimistisch wie Dostojewskis Vorlage. Der Adler, Zeichen der Freiheit, mit gebrochenen Flügel, kann bei Leos Janácek am Ende wieder fliegen. Immer wieder taucht er als Zeichen der Freiheit aus. Und genau er wird zur Crux von der ersten Szene an unter Castorfs Regie. Als schillernder Paradiesvogel in Gestalt eines Revuegirl, ist er fast ständig präsent, flattert nervös hin und her und nimmt den Gefangenen die Würde der Tragik. Kombiniert mit surreal karnevalistisch überdrehten Ausstattungsszenen, der Tod in kurioser Pracht, der Rokoko-Galan mit seinen Flittchen, verliert sich die Inszenierung in Effekt heischenden Ausstattungsideen ihre Erdung, verstärkt durch Videos (Andreas Deinert, Jens Crull). Die Sänger können nicht die expressive Wirkung von Spitzenschauspielern entwickeln. Unterlegt mit Texten aus Dostojewskis "Dämonen" präsentiert sich Castorf zwar als Dostojewski-Experte, doch statt zu hören ist der Zuschauer oft nur mit Lesen beschäftigt. Die Musik degradiert zum Soundhintergrund wie im Theater.
Selbst das extrem aufwändig verschachtelte, mehrstöckige Lager auf der Drehbühne, inzwischen reichlich abgenütztes Markenzeichen von Aleksandar Denic, vermittelt nicht wirklich die Hölle auf Erden, wirkt im Sonnenlicht fast gemütlich und verwandelt sich im Gegenlicht der Überwachungsanlagen zum artifiziellen Kunstraum, ohne unter die Haut zu gehen. Es fehlt einfach die Schwingung zwischen Musik und Regie. Mit Kuba-Türkis, Peps-Cola- und Filmplakat-Werbung die Problematik global zu weiten, ist intellektuell nachvollziehbar, bleibt letztendlich dekoratives Beiwerk, ohne wirklich betroffen zu machen. Leos Janáceks Zentralmotive, Demut, orthodoxe Frömmigkeit, die Schwere des Lebens gehen in der Reizüberflutung verloren.
Wie großartig Musik und Sänger sind, fühlt man erst beim letzten großen gesungenen Monolog, wenn die optische Berieselung endlich ausgesetzt wird. So galt der Applaus zu Recht der Dirigentin Simone Young und den Solisten Peter Rose (Gorjancikov), Charles Workman (Skuratov), Bo Skovhus (Siskov) Ales Briscein (Luka) und Evgeniya Sotnikova (Aljeja). Die Oper "Aus einem Totenhaus" wird noch im Juni, Juli und Oktober in München aufgeführt.
31.05.2018 - 14:16 Uhr
Optische Reizüberflutung
von Autor MIL
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