Lesung in Regensburg: So literarisch kann Physik sein

Regensburg
06.12.2022 - 09:40 Uhr

„Spukhafte Fernwirkung“ klingt geheimnnisvoll. Trotz der Anleihe aus der Quantenphysik ist Ulrike Anna Bleiers Roman gut aufgehoben in der Kategorie Belletristik. Eine Verbindung zu den diesjährigen Nobelpreisen besteht aber doch.

Nach der erfolgreichen Buchpremiere in Köln klärt Ulrike Anna Bleier nun auch in ihrer Oberpfälzer Heimat das eine oder andere Rätsel, das sich in und hinter der „Spukhaften Fernwirkung“ verbirgt. Der Titel ist übrigens keine Effekthascherei, sondern korrespondiert perfekt mit der von ihr kreierten nicht-hierarchischen Struktur.

„Ich wollte eine Erzählweise entwickeln, die keinen Helden hervorbringt mit einer Entourage aus Nebenfiguren, wie es in der klassischen Heldenreise vorgesehen ist. Meine Figuren bewegen sich gleichberechtigt durch den Roman, gleichberechtigt vor allem in ihren Möglichkeiten, sich zu zeigen und entfalten“, schreibt Ulrike Anna Bleier auf Nachfrage von Oberpfalz-Medien.

Zufall und Gleichzeitigkeit

Dafür wiederum hätten sich Prinzipien des Zufalls und der Gleichzeitigkeit, wie sie in der Quantenphysik vorkommen, geradezu angeboten. Und die Schriftstellerin weiß noch mehr dazu: „Spukhafte Fernwirkung besagt, dass zwei Quantenteilchen einander beeinflussen, ohne miteinander verbunden zu sein. Ein äußerst rätselhafter Vorgang, der Albert Einstein sehr missfallen hat – vor allem, weil dieses Phänomen seine Relativitätstheorie alt aussehen ließ und das er deshalb etwas abschätzig ‚Spukhafte Fernwirkung‘ genannt hat."

Mittlerweile wisse man diese Entdeckung aber zu schätzen und forsche eingehend dazu, vor allem im Bereich der Datenverschlüsselung. Dass der dafür verliehene Nobelpreis für Physik 2022 mit dem Erscheinen des Romans zusammentrifft, ist Zufall. Genauso wie die Tatsache, dass eines der gewählten Eingangszitate von der Literaturnobelpreisträgerin 2022, Annie Ernaux, stammt. „Offenbar waren da ein paar Teilchen spukhaft miteinander verbunden“, kommentiert Bleier.

Auf das Thema gebracht wurde sie durch eine Ausstellung von Carsten Nikolai in Berlin, der mit Hilfe von Lasertechnik spukhafte Verbindungen herstellte. Den „galaktischen“ Eindruck verarbeitete Bleier auch in einer Szene des Romans. Ihre im Laufe des Schreibens immer intensivere Auseinandersetzung mit Physik und Mathematik war allerdings von „Heidenrespekt“ begleitet: „In der Schule hatte ich immer eine 5 in Physik“.

Geheimnisvolle Zwischenüberschriften

Das scheint sich aber doch gelegt zu haben, denn nicht alle der als geheimnisvolle Zwischenüberschriften zum Einsatz kommenden Formeln sind echt: Einen Teil davon habe sie tatsächlich gegoogelt, andere schlichtweg erfunden: „Lustigerweise weiß ich inzwischen selbst nicht mehr, welche Formeln nur ausgedacht sind."

Fragt man nach der genauen Zahl der im Buch auftretenden Personen, bleibt die Antwort vage. Es seien unendlich viele Figuren, auch wenn sie nicht alle im Buch vorkämen: „Denn die, die da stehen könnten, oder die, die im Kopf der Leserinnen und Leser beim Lesen entstehen, müssen natürlich dazugerechnet werden“. In ihrem eigenen Kopf haben sich die Figuren nach und nach vermehrt und tun dies immer noch, so Bleier. Manche seien auch miteinander verschmolzen und zu einer einzigen Figur geworden. Oder sie hätten zueinander Beziehungen aufgenommen, von denen sie selbst nichts wusste - „quasi spukhaft hinter meinem Rücken“.

So etwas schreibt sich selbstredend nicht von heute auf morgen. Tatsächlich gab es schon 2013 erste Entwürfe, mit den ersten sechs Seiten sei sie sogar einmal beim MDR-Literaturwettbewerb eingeladen gewesen, richtig ernst wurde es dann aber erst 2017. Mit Story-Board arbeitet Bleier aber nicht: „Ich würde nicht einmal sagen, dass ich die Figuren erfinde, entsprechend muss ich ihnen auch keine Eigenschaften oder Biographien auf den Leib schreiben. Sie erfinden sich eher selbst und dafür brauchen sie viel Raum und genügend Luft um sich herum. Sie sollen ja beweglich bleiben, um zufällig an einer anderen Stelle im Buch wieder auftauchen zu können."

Weiterentwicklung durch App

So etwas könne man nicht konstruieren, das müsse man dem Augenblick überlassen. "Spukhafte Fernwirkung" sei also eher ein organisches Gebilde, das ständig im Fluß ist, und weniger eine stabile Konstruktion, die in sich ruht. Beim Entstehungsprozess mitgeholfen haben diverse Unterstützer und Stipendien. Bevor sie das zweimonatige Austauschstipendium des Bayerischen Kunstministeriums in Quebec-City antrat, lieferte Ulrike Anna Bleier das fertige Manuskript beim Lichtung Verlag in Viechtach ab. Das Gebilde aber entwickelte sich in Kanada weiter: „Denn so ein Quantenuniversum bleibt ja nicht brav zwischen zwei Buchdeckeln sitzen. Und so kam es, dass ich jetzt zusammen mit einer Agentur eine App entwickle, die den Text vollends öffnet. Er kann dann nicht nur gelesen werden, sondern auch weitergeschrieben. Die App soll im Frühjahr online gehen."

Bei 416 Seiten gefüllt mit unzähligen Figuren, Perspektiven und Abgründen stellt sich natürlich auch die Frage, ob mit „Spukhafte Fernwirkung“ vielleicht schon das Bleier'sche opus magnum vorliegt: „Ich glaube ja nicht an Hierarchien, eher an gegenseitige Anhänglichkeiten. Im Grunde sind alle Texte, die ich schreibe, ein einziger Text, der aber zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Ausführungen und Formaten erscheint. Ob mein opus magnum nun der Einkaufszettel ist, den ich am Samstagmorgen mit zum Markt nehme, oder einer meiner Romane, ist schwer zu sagen. Und es kann sich ja auch täglich ändern“, lautet die Antwort darauf.

HINTERGRUND:

Zu Person, Buch und Lesung

  • Ulrike Anna Bleier, Schriftstellerin, geboren 1968 in Regensburg, landete mit ihrem Debütroman "Schwimmerbecken" 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher unabhängiger Verlage, 2018 erschien der Nachfolger "Bushaltestelle". Ulrike Anna Bleier lebt in Köln und in der Oberpfalz
  • Spukhafte Fernwirkung, Roman, 416 Seiten, Hardcover, Edition Lichtung, 24 Euro
  • Lesung und Gespräch mit Ulrike Anna Bleier und Verlegerin Kristina Pöschl am Mittwoch, 7. Dezember um 19 Uhr im Degginger in Regensburg
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