Weiden in der Oberpfalz
21.12.2018 - 16:53 Uhr

Kein Schmidt 4.0 in Sicht

Der knorrige Hamburger war wahrscheinlich der letzte Politiker, der das Vertrauen einer großen Mehrheit der Deutschen genoss. Am Sonntag wäre Helmut Schmidt 100 Jahre alt geworden. Wegbegleiter und ein Forscher erinnern an den Kanzler der sozialliberalen Koalition.

Der Altkanzler wäre am 23 Dezember 100 Jahre alt geworden. Bild: Michael Kappeler/dpa
Der Altkanzler wäre am 23 Dezember 100 Jahre alt geworden.

Ludwig Stiegler stand in einer der dunkelsten Stunden von dessen Kanzlerschaft an Helmut Schmidts Seite. "Ich bin noch am Tag des Misstrauensvotums im Seitenteil des Plenarsaals mit ihm auf und ab gegangen", erinnert sich der Oberpfälzer mit dem roten Pullunder, der 29 Jahre für Weiden im Bundestag saß. "Das werde ich nie vergessen." Er habe ihn gefragt: "Helmut, gibt's jetzt wieder ein Wunder wie bei Willy Brandt?" Die lakonische Antwort des Lotsen, kurz bevor er 1982 von Bord musste: "Nein, mein Junge, diesmal gibt es kein Wunder."

Der nüchterne Hanseat war kein Mann der Wunder wie sein Lübecker Pendant Willy Brandt, dem die Herzen der Genossen zuflogen. "Er sah Politik als Problemlösungsinstanz", wie das Thomas Birkner, Kommunikationswissenschaftler der Universität Münster nennt. "Er hat vielleicht manchmal zu sehr von Problem zu Problem gehandelt." Zu einer regelrechten Kultfigur sei der sämtliche Rauchverbote ignorierende Sozialdemokrat erst später geworden: "Sein positives Vermächtnis ist nicht so sehr in der Kanzlerschaft zu suchen. Ganz viel von dem, was sein Image ausmacht, entstand, als er als der deutsche Elder Statesman wahrgenommen wurde, der als Mitherausgeber der Zeit über 30 Jahre Kommentator von Politik geblieben ist."

Dennoch, gerade weil Schmidt Visionäre zum Arzt schickte und stattdessen lieber die Ärmel hochkrempelte, wurde "Deutschlands leitender Angestellter", wie er sich selber einstufte, zur prägenden politischen Ikone für den Weidener Abgeordneten: "Im Grunde hat er mich in meiner politischen Entwicklung seit 1963 begleitet", sagt Stiegler, der ihn als junger Soldat in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle zum ersten Male reden hörte. Er habe ihn dann als Student in Bonn erlebt, wo der Spitzenpolitiker nicht weit weg von ihm gewohnt hatte. "Schmidt kannte mich, und ist auch zu meinem ersten Wahlkampf 1980 nach Weiden gekommen, um hier zu sprechen." Schmidt kam gerne in die Oberpfalz, so sehr sich Schmidt Schnauze auch mit Bayerns oberstem Repräsentanten Franz Josef Strauß zoffte.

Glühender Schmidtianer: Der 2009 scheidende bayerische SPD-Vorsitzende, Ludwig Stiegler nach seiner Rede zu den Abgeordneten im Plenarsaal des Bundestages. Bild: Arno Burgi dpa/lbn
Glühender Schmidtianer: Der 2009 scheidende bayerische SPD-Vorsitzende, Ludwig Stiegler nach seiner Rede zu den Abgeordneten im Plenarsaal des Bundestages.

Wildsau vom Ortsverein

"1981 kam er auf Wahlkreisbesuch zu einer Regionalkonferenz", erinnert sich Stiegler, "beim Besuch in Eslarn hat ihm der Ortsverein eine Wildsau geschenkt - am Ende hat man gestritten, wer die Sau bezahlt", sagt der ehemalige bayerische SPD-Chef schmunzelnd. Auch nach Schmidts aktiver Zeit sei der Kontakt nicht abgerissen. Zusammen mit Fritz Möstl, Weidens Ex-SPD-Landtagsabgeordneter, habe er ihn ein dreiviertel Jahr vor dessen Tod im Hamburger Herausgeber-Büro der "Zeit" besucht.

"Er hat uns examiniert", erzählt Stiegler amüsiert, "wir kamen uns vor wie zwei Prüflinge - er war hellwach." Die "Bude", ein Arbeitszimmer ähnlich dem der Weidener Verleger, vollgequalmt und vollgestopft mit Büchern. "Da drin hat er Weltpolitik mit großem Verstand verfolgt."

Erinnerungen an alte Schlachten. Helmut Schmidt im Wahlkampf 1980, eine Elefantenrunde mit Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Schmidt liegt mehr im Stuhl als dass er sitzt, im großen Bogen führt er die Zigarette zum Mund. Mit beißender Ironie macht er sich über die Argumente der Kontrahenten lustig, deren Köpfe rot anlaufen. "Für mich war das keine Arroganz", verteidigt Stiegler die Attitüde, "er hat seine Überheblichkeit nur Starken gegenüber gezeigt."

Der SPD-Abgeordnete Franz Schindler sieht in der SPD derzeit keinen neuen Schmidt im Kommen: "Man kann Leute wie Schmidt und Brandt nicht klonen." Bild: Matthias Balk/dpa
Der SPD-Abgeordnete Franz Schindler sieht in der SPD derzeit keinen neuen Schmidt im Kommen: "Man kann Leute wie Schmidt und Brandt nicht klonen."

Keine Zeit für Flausen

Wie ruppig Schmidt sein konnte, hat SPD-Bezirkschef Franz Schindler miterlebt: "Bei einem SPD-Bezirksparteitag, zu dem er eingeflogen worden war, hatte sich der Regensburger Professor Herbert Brekle zu Naturschutzbelangen zu Wort gemeldet - da hat er den Genossen argumentativ fertig gemacht, er habe keine Zeit für solche Flausen, er müsse das große Ganze betrachten." Ein großer Fehler, findet Schindler, "das hat er nicht richtig eingeordnet". Ein Grund für die Abspaltung der Umweltschützer in der SPD und die Gründung der Grünen.

Obwohl Schindlers Sympathien eher Brandt galten, bewertet er die Kanzlerschaft des unsentimentalen Machers dennoch positiv: "In einer schwierigen weltwirtschaftlichen Situation ist es ihm gelungen, der Wirtschaft Vorgaben zu machen, um die Krise zu überwinden - anstatt nur zu sparen, hat er auch konjunkturelle Impulse gesetzt." Auch wenn er zum Schluss seiner Ära die Partei mit dem NATO-Doppelbeschluss gespalten habe: "Er hat auch Brandts Ostpolitik weitergeführt und im Deutschen Terror-Herbst Augenmaß bewiesen."

Kann die kriselnde SPD von ihrem früheren Leitstern noch etwas lernen? "Man kann Charaktere wie Schmidt, Brandt oder Wehner mit ihren ureigenen Kriegserfahrungen nicht klonen", ist Schindler skeptisch. "Heute brauchen wir in einer schnellen Zeit mit unübersichtlichen Interessen und Sozialen Medien Antworten auf die Sorgen vieler Menschen, wie der Wohlstand erhalten und die Welt von der Klimakatastrophe gerettet werden kann." Ein Helmut Schmidt 4.0 sei jedenfalls nicht in Sicht.

Info:

Interview mit Schmidt-Experte Thomas Birkner

Kommunikationswissenschaftler Thomas Birkner, der zwei Interviews zur Europapolitik mit ihm führte, charakterisiert Helmut Schmidt als Politiker, der „als Herausgeber bei der ZEIT große Leitlinien zum Thema Weltwirtschaft, der Rolle Chinas oder Deutschlands in Europa, der Kontrolle von Investmentbanking und wie man die Deutschen vor sich selber schützen muss, gezeichnet hat“.

Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) spricht auf der wehrpolitischen Tagung der SPD am 6.6.1971 in Koblenz. Bild: Martin Athenstädt/dpa
Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) spricht auf der wehrpolitischen Tagung der SPD am 6.6.1971 in Koblenz.

ONETZ: Was bleibt von der Kanzlerschaft Schmidt? Mir fallen eher negative Marken ein, für die er nur teilweise was konnte: Ölkrise, steigende Arbeitslosigkeit, RAF, NATO-Doppelbeschluss …

Birkner: Sein positives Vermächtnis ist nicht so sehr in der Kanzlerschaft zu suchen. Ganz viel von dem, was sein Image ausmacht, entstand erst nach der Kanzlerschaft als vielleicht der deutsche Elder Statesman, der Mitherausgeber der Zeit, der über 30 Jahre Kommentator von Politik geblieben ist. Seine regelmäßigen Einmischungen zeigen das Bild eines deutschen Politikers mit einer klaren Haltung. Man wird vielleicht daran erst sein Wirken und seine Lebensleistung bemessen können.

ONETZ: Sein berühmtes Zitat, wer Visionen hat, soll zum Arzt, ist symptomatisch für Schmidts Denken?

Birkner: Ich glaube schon, dass Schmidt versucht hat, das Amt mit einem gehörigen Maß an Pragmatismus auszufüllen. Er sah Politik als Problemlösungsinstanz. Er hat vielleicht manchmal zu sehr von Problem zu Problem gehandelt. Viele meinten deshalb, ihm fehlte der intellektuelle Überbau. Nichtsdestotrotz, bei der ZEIT hat er große Leitlinien zum Thema Weltwirtschaft, der Rolle Chinas oder Deutschlands in Europa, der Kontrolle von Investmentbanking und wie man die Deutschen vor sich selber schützen muss, gezeichnet.

ONETZ: Inwieweit wirkte sich die Rivalität von Helmut Schmidt und Willy Brandt auf die Politik aus?

Birkner: So sehr sie sich in die Haare bekamen, waren Brandt und Schmidt zusammen mit Wehner ein Glücksfall für das Land, weil sie ganz unterschiedliche Kompetenzen besetzten. Sie litten auch daran, dass einer etwas besser konnte als man selber. Für Schmidt war es nicht leicht, die Überfigur Willy vor sich zu haben. Aber umgekehrt hat dieser Schmidt dessen klare Linie geneidet. Zusammen nutzten sie diese Spannung produktiv.

ONETZ: Ölkrise und steigende Arbeitslosigkeit, RAF und unnachgiebiger Staat, NATO-Doppelbeschluss, Atomkraft, Friedensbewegung und Abspaltung der Grünen. Ist er gescheitert?

Birkner: Er hat sich als Krisenmanager gesehen und versucht, die Auswirkungen der weltweiten Krise nach Yom-Kippur-Krieg und Ölkrise in den Griff zu bekommen. Aus heutiger Sicht ist er noch nicht auf die Idee gekommen, auf Wind- und Solarenergie zu setzen. Sein Ansatz war immer zu überlegen, was können wir praktisch tun? Das galt auch bei der Bekämpfung der steigenden Arbeitslosigkeit. Das ist ja seit damals immer eines der Hauptthemen in deutschen Wahlkämpfen, wie bei Gerd Schröder, der versprach, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Helmut Schmidts Ansatz in der Arbeitsmarktpolitik und in vielen weiteren Politikfeldern war: Wir werden das nicht national lösen können, sondern nur im Verbund Europas. Und mit seiner G7-Initiative zusammen mit Giscard d‘Estaing verfolgte er sogar mit dem Ziel, die Weltökonomie gemeinsam zu gestalten.

Freude sieht anders aus: Bundeskanzler Helmut Schmidt begrüßt den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt vor einer Parteiratssitzung. Bild: Chris Hoffmann/dpa
Freude sieht anders aus: Bundeskanzler Helmut Schmidt begrüßt den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt vor einer Parteiratssitzung.

ONETZ: Ist Helmut Schmidt für die Entstehung der Grünen verantwortlich?

Birkner: Ich glaube schon, dass er an der Stelle nicht richtig eingeschätzt hat, welche Wucht diese Bewegung hat – sowohl die Friedens- als auch die Anti-Atombewegung – dass sich daraus eine Bewegung entwickeln, ein linker Flügel abspalten könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Sein Credo war: Wir müssen ein niedrigschwelliges Gleichgewicht schaffen, um die Sowjets zum Abrüsten zu bewegen. Und genauso verhielt er sich in der Energiefrage: Erst einmal ist die Versorgung aufrechtzuerhalten.

ONETZ: Man kennt die TV-Bilder von politischen Runden, bei denen Schmidt lässig im Stuhl lehnte, die Zigarette mit großem Schwung zum Mund führte und sich über Kohl und Strauß lustig machte. War das Arroganz oder Streitlust?

Birkner: Schmidt sah sich oft mit dem Vorwurf der Arroganz konfrontiert. Ich habe selbst einige Interviews mit ihm geführt und das persönlich nie so empfunden. Ich habe aber auch mit Weggefährten wie Giovanni di Lorenzo oder Klaus Bölling gesprochen, die das eher bestätigen konnten. Er hat es schon genossen, sich als Weltbürger aus Hamburg, der viel gereist war, über Kohl und seine Provinzialität zusammen mit Zeit, Stern und Spiegel lustig zu machen. Was ihm einst als Arroganz ausgelegt wurde, schätzte man später, als er kultiger wurde, in dem rauchenden, über den Dingen stehenden Elder Statesman.

Melanie Leonhard (SPD), Hamburger SPD-Vorsitzende und Sozialsenatorin, auf dem Friedhof Ohlsdorf am Grab von Helmut Schmidt. Bild: Axel Heimken/dpa
Melanie Leonhard (SPD), Hamburger SPD-Vorsitzende und Sozialsenatorin, auf dem Friedhof Ohlsdorf am Grab von Helmut Schmidt.
 
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