ONETZ: Sie haben jetzt Feierabend. Hatten Sie einen normalen Arbeitstag?
Christina Roscher: Nein, tatsächlich nicht. Ich pendle für meine berufliche Tätigkeit drei Tage die Woche nach Shenzhen in China. Dazu muss ich mit Bus und Zug einmal quer durch Hongkong, den Hafen und die Grenze überqueren. Das war gestern und heute nicht möglich. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind ausgesetzt. In der Nähe meiner Haltestelle befinden sich Regierungsgebäude. Dort finden viele Proteste statt.
ONETZ: Wie nah kommen Sie den Demonstrationen?
Christina Roscher: Hongkong besteht aus mehreren Inseln. Eine davon ist an China angedockt, dort leben viele Einheimische, dort ist der Schwerpunkt der Proteste. Ich selbst wohne im Zentrum, hier war es okay, aber jetzt sind die Kämpfe auch hier angekommen. Dazu muss ich nur um die Ecke gehen. Dieser Tage habe ich vom Fenster aus Demonstranten zur Straße hochlaufen sehen. Mit Masken, in Schwarz.
ONETZ: Empfinden Sie das nicht als bedrohlich?
Christina Roscher: Zunächst muss ich sagen, dass Hongkong generell eine sehr sichere Stadt ist, definitiv sicherer als Deutschland. Selbst in Weiden lebt man nicht so sicher wie in Hongkong. Aber jetzt, nach allem was passiert ist, wird mir schon unheimlich. Seit Wochen tobt hier eine Schlacht.
ONETZ: Was spielt sich auf den Straßen ab?
Christina Roscher: Ich habe den Eindruck, dass die Situation in den westlichen Medien nicht so transportiert wird, wie sie tatsächlich ist. Ich sehe hier ja auch die "Tagesschau". Das sieht darin nicht so dramatisch aus, wie es wirklich ist. Die Polizeistation gleich hier um die Ecke wurde gestürmt. Auf den Straßen finden richtige Schlachten statt. In der U-Bahn-Station wird gekämpft. Die Polizei setzt Schlagstöcke und Tränengas ein. Heute habe ich das in der Luft bemerkt.
ONETZ: Wie verhalten Sie sich?
Christina Roscher: Man soll weder ganz in Schwarz, noch ganz in Weiß gekleidet auf die Straße gehen. Schwarz bedeutet pro-demokratisch, weiß pekingtreu. Man kann sich schon fortbewegen, man sieht auch Familien mit Kindern, aber Brennpunkte meide ich. Es gibt Whatsapp-Gruppen, in denen über die Lage informiert wird.
ONETZ: Wie ist die Situation an der Grenze?
Christina Roscher: Schon in den letzten Wochen sind an der Grenze zu China die Kontrollen verstärkt worden. Ich muss täglich morgens und abends durch jeweils zwei Grenzkontrollen: in Hongkong und China. Jeden Tag bekomme ich zwei Stempel in den Pass.
ONETZ: Was sagen denn Ihre chinesischen Kollegen zu den Tumulten?
Christina Roscher: Für China und Hongkong gilt das Prinzip "ein Land, zwei Systeme". Tatsächlich weiß man in China gar nichts. Meine chinesische Kollegin, die direkt an der Grenze lebt, hat keinen blassen Schimmer, was hier passiert. In China gibt es kein Whatsapp, kein Facebook und Instagram.
ONETZ: Wäre es für Sie gefährlich, wenn Sie die Demonstrationen filmen oder fotografieren und dies den Kollegen zeigen würden?
Christina Roscher: Mittlerweile ja. Ich habe jetzt gehört, dass an der Grenze Handys auf Bilder kontrolliert werden. Die staatliche Kontrolle ist enorm.
ONETZ: Befürchten Sie einen chinesischen Militäreinsatz?
Christina Roscher: Ich glaube nicht, dass es China soweit kommen lässt. Man wird Carrie Lam absetzen und damit eine Hauptforderung der Demonstranten erfüllen. Hongkong ist ein wirtschaftlich wichtiger Standort ist. Es gibt viele NGOs, Konzerne und Banken, welche hier ihren Sitz haben. Hongkong ist international und ist im Auge der weltweiten Öffentlichkeit. Somit wird Peking hier sehr überlegt handeln.
ONETZ: Der Auslöser der Proteste nimmt sich unspektakulär aus: Es ging ursprünglich um ein Gesetz zur Auslieferung Beschuldigter nach China. Das Gesetz ist vom Tisch – warum wird weiter protestiert?
Christina Roscher: Die Menschen, die hier revoltieren, haben Angst, doch irgendwann zu China zu gehören. Die Demonstranten sind Hongkong-Natives der Mittelschicht, die schon an den Umbrella-Protesten teilgenommen haben. Sie treten für Demokratie ein, wollen ihre Freiheit behalten. Ich kann's verstehen. Mein Mann arbeitet in China. Man ist schon sehr eingeschränkt. Die Hongkonger sind zudem frustriert wegen der hohen Lebenshaltungskosten. Hongkong ist die teuerste Stadt der Welt und wird vor allem auf dem Immobilienmarkt durch chinesische Investoren gehandelt.
ONETZ: Was schätzen Sie am Leben in Hongkong? Sie haben ja immerhin auch in Los Angeles und Paris gelebt, auch in Berlin und natürlich in Rothenstadt. Warum Hongkong?
Christina Roscher: Hongkong ist für mich eine unglaubliche Stadt. Es gibt nichts Vergleichbares. Eine Stadt, die einerseits niemals schläft, die pulsierend, dynamisch ist. Hier kann man zu jeder Stunde des Tages alles tun, was man will. Andererseits bietet Hongkong viel Natur, und damit bin ich ja in Rothenstadt aufgewachsen. Man kann hier drei Stunden wandern und kommt an Stränden heraus, an denen keine Menschenseele ist. Dazu der Kontrast zwischen Moderne und Kultur - Hongkong hat Charakter.
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