Donnerstag, 14. Juni, früher Abend: Eine junge Frau, wohnhaft in Leipzig und dort mit Erstwohnsitz gemeldet, sucht eine Mitfahrgelegenheit nach Nürnberg, um ab dort per Zug nach Hause zu den Eltern zu fahren. Doch Sophia Lösche kommt daheim nicht an. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine Nachricht, die sie am Abend einem Freund und zwei Freundinnen aufs Handy schickt.
Familie in größter Sorge
Die 28-Jährige schreibt, dass sie bei einem Trucker aus Marokko im Lkw sitzt. Sie fügt ein lachendes Smiley an. "Es war eine völlig unverfängliche Nachricht", sagt ihr Bruder Andreas Lösche und widerspricht Medienberichten, wonach Sophia als Vorsichtsmaßnahme beim Trampen das Bild des Lkws oder dessen Kennzeichen verschickt habe. "Das war definitiv nicht der Fall." Sophia war lediglich froh, jemanden gefunden zu haben, der sie in Richtung Heimat mitnahm.
Ab circa 20 Uhr ist ihr Handy ausgeschaltet. In größter Sorge um die Tochter, die nicht ankam und sich nicht meldete, schaltet ihr Vater am nächsten Vormittag die Polizei ein. Er fühlt, dass seinem Kind, "das extrem zuverlässig und immer erreichbar war", etwas zugestoßen sein muss. "Wir hatten sofort den Verdacht, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt", sagt Sophias Bruder. Die Polizei hingegen habe "die Lage komplett falsch eingeschätzt".
Auf eigene Faust suchen die Familie und Freunde über den Blog "#findsophia", in Social-Media-Aufrufen, mit Plakaten entlang der Strecke zwischen Leipzig und Nürnberg und mit Flyern, die sie an Trucker verteilen. Von einem Lkw-Fahrer kommt der Hinweis, Sophia sei in Schkeuditz, einem Rastplatz an der A 9, in einen blauen Lkw gestiegen.
Auch heute, zehn Wochen danach, ist Andreas Lösche das Entsetzen darüber, dass selbst diese Information für die Polizei zunächst einmal kein Ermittlungsansatz gewesen sei, noch anzumerken. Seine Cousine ist es schließlich, die am Samstag die Leipziger Polizei "drei Stunden bekniet, nach Schkeuditz zu fahren, um Aufnahmen der komplett videoüberwachten Raststätte zu sichten". Die Bänder zeigen tatsächlich, wie Sophia um 18.20 Uhr in den Lkw steigt. "Spätestens jetzt hätte die Polizei Vollgas geben müssen", sagt Lösche. Doch wiederum sind es Familie und Freunde, die weiter ermitteln - im Rahmen ihrer Möglichkeiten. "Uns blieb in unserer Verzweiflung ja gar nichts anderes übrig", sagt Lösche. "Wir haben weiter gesucht. Gesucht, gesucht, gesucht."
Mit der Kritik an der Polizeiarbeit in einem offenen Brief (mehr Empathie für besorgte Angehörige, ein schnelleres Ermitteln in Richtung eines Tötungsdelikts) wollen die Familie und Sophias Freunde laut Andreas Lösche erreichen, „dass es das nächste Mal in einem ähnlichen Fall besser gemacht wird“. Andreas Lösche glaubt zwar nicht, dass das Leben seiner Schwester hätte gerettet werden können, doch er ist überzeugt, dass der Tatverdächtige früher – noch in Deutschland – erwischt worden wäre. Er fordert, dass der Fall aufgearbeitet wird, „am besten in der Innenministerkonferenz“.
"Wo sonst sollte sie sein?"
Sie machen die Spedition ausfindig, erreichen sie aber wegen des Wochenendes erst am Montag. Es ist der Tag, an dem die Polizeidienststellen in Amberg und Leipzig erst noch klären, wer zuständig ist. Am Telefon beteuert der Trucker denjenigen gegenüber, die nach Sophia suchen, seine Unschuld. Er gibt an, Sophia sei an der Ausfahrt bei Lauf ausgestiegen. Es ist die Uhrzeit, die Andreas Lösche stutzig macht. Gegen 22 Uhr sei das gewesen, behauptet der Mann. Aber Sophias Bruder weiß längst, dass der Lkw Lauf erst gut zweieinhalb Stunden später erreichte. Diese Diskrepanz ist es, die Lösche so sicher macht, dass dieser Mann etwas mit dem Verschwinden seiner Schwester zu tun hat. "Es war Tag vier - wo, wenn nicht in seiner Gewalt, sollte Sophia sein?"
Zu diesem Zeitpunkt ist es für den 51-Jährigen keine realistische Option mehr, dass seine Schwester noch am Leben ist. "Aber man klammert sich an jeden Strohhalm und hofft auf alles." Er erzählt, wie er tags zuvor stundenlang Fährlinien recherchierte und informierte, ihnen Fotos der 28-Jährigen schickte und sie bat, die Polizei zu verständigen, falls jemand den Lkw oder Sophia sehen sollte. Die Guardia Civil nimmt den dringend tatverdächtigen Trucker am Dienstag, 19. Juni, in Südspanien fest, zwei Tage später wird in Asparrena im Baskenland eine angebrannte Leiche gefunden. "Er wusste wohl, dass er gesucht wird", sagt Andreas Lösche über den mutmaßlichen Täter. Dafür spreche, dass er im Baskenland die Leiche ablegt und versucht, sie zu verbrennen, und später in Südspanien seinen Lkw anzündet und zu Fuß flüchtet.
Es hätte nicht mehr viel gefehlt und der Trucker hätte die Fähre erreicht. "Er wäre ganz gemütlich nach Marokko rüber. Er wäre wohl davon gekommen, Sophia hätte man womöglich nie gefunden." Seit der Festnahme und dem Leichenfund durchleben die Angehörigen eine inzwischen neun Wochen andauernde, zermürbende Zeit des Wartens. "Es ist ein unerträglicher Schwebezustand, jeder Tag macht es schlimmer." Bislang weiß die Familie überhaupt nicht, wann sie Sophia beerdigen kann, obwohl die Identität des Opfers zweifelsfrei feststeht, die Obduktion abgeschlossen ist und das Ergebnis vorliegt. Ihr Bruder hat mehrere Forensiker kontaktiert. Keiner habe verstehen können, "warum es notwendig ist, Sophia noch in Spanien zu behalten", berichtet er. Mehrfach schrieb Lösche die zuständige spanische Ermittlungsrichterin an und bekam von ihr ebenso wenig eine Antwort wie vom Staatsanwalt in Bayreuth.
Appell an die Justiz
Vor wenigen Tagen appelliert er über die Zeitung "El Correo" an die spanische Justiz, Sophia doch endlich der Familie zurückzugeben. "Wie sollen wir mit unserer Trauerarbeit beginnen können, wenn wir sie nicht mal bei uns haben?", fragt er sich. Auch diese Bitte verhallt - bislang. Andreas Lösche weiß um die vielen traurigen und schmerzlichen Tage, die noch vor der Familie liegen. Die Beerdigung, das erste Weihnachten ohne Sophia, ihr nächster Geburtstag. Und schließlich der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter - wann und wo auch immer er geführt werden wird.
Dass der gewaltsame Tod seiner Schwester die Öffentlichkeit bewegen würde, war Andreas Lösche von Anfang an bewusst. Ihn erreichten Hunderte, meist von Fake-Accounts verschickte Nachrichten voller Hass und Hetze gegen seine Schwester und deren Engagement für Geflüchtete, unter anderem für die No-Border-Kitchen auf Lesbos. Die ersten fünf Tage habe er all diese widerwärtigen Mails gelöscht. „Später haben wir sie gesammelt, um sie der Staatsanwaltschaft weiterzuleiten.“ Den Medien ist der 51-Jährige dankbar, dass fast alle die Kommentarfunktion zu den Artikeln deaktiviert hatten. Durchaus klar gewesen sei ihm, „was in den sozialen Netzwerken abgeht, als bekannt wurde, dass meine Schwester, die in der Flüchtlingshilfe engagiert war, zu einem Lkw-Fahrer aus Marokko eingestiegen ist“.
Als besonders schlimm empfindet Andreas Lösche die Art und Weise, wie über Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm hergezogen wird, der auf Wunsch der Hinterbliebenen bei einer Trauerfeier für Sophia am 1. August in der Paulanerkirche sprach. Namentlich nennt Andreas Lösche sowohl AfD-Rechtsaußen Björn Höcke als auch Vera Lengsfeld, einst Bürgerrechtlerin in der DDR: „Es ist widerlich, dass sie meine ermordete Schwester dafür nutzen, ihren braunen Müll zu verbreiten.“ Dem setzen die Familie und Freunde einen rührenden Nachruf auf Sophia entgegen, in dem sie daran erinnern, was Sophia alles bewegt hat und wie viel davon in Bewegung geblieben ist – bis heute. Mit seiner Predigt sei Bedford-Strohm sehr, sehr nah an Sophia gewesen. Andreas Lösche will auch nicht unerwähnt lassen, dass eine große Anzahl wildfremder Menschen echtes Mitgefühl und aufrichtige Anteilnahme gezeigt hat.
Es ist der ausdrückliche Wunsch der Familie, den Namen von Sophia Lösche nicht abzukürzen und ihr Gesicht nicht unkenntlich zu machen - diesem Wunsch kommt die Redaktion nach.
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