Das imposante Gotteshaus im Ortsteil Netzaberg, die Amerikaner nennen es schlicht "Chapel", erlebte am Mittwoch einen ungewöhnlichen Andrang. In sechs Omnibussen waren Lutheraner der Kulmregion, unter die sich auch einige Katholiken gemischt hatten, zu einer "Wallfahrt" aufgebrochen. Ihr Ziel war es, mit den US-Lutheranern einen Tag zu feiern, der als Reformationstag in die Geschichte einging und an eine Bewegung zur Erneuerung der Kirche erinnert, die zur Entstehung neuer, vom Papsttum unabhängiger Kirchen führte.
Für den überwiegenden Teil der Gläubigen war es der erste Besuch der Netzabergkirche, die das amerikanische Schulzentrum überragt. Das Innere des Gebäudes beeindruckte ebenso wie die mitreißende Art des amerikanischen Pfarrers Dr. Wesley Teixeira, mit der er die Chapel geradezu zur Wittenberger Schlosskirche machte. Sein neuzeitlicher "Jubelruf" zum Ende des Gottesdienstes sprach Bände. Die Seiten des Kirchenraumes schmückten unzählige Fahnen mit Aufschriften wie "Find joy everyday", "Trust in the Lord" oder "Go and make discipleys of all nations". Zum Einzug der Pfarrer, angeführt von Eschenbachs Pfarrerin Anne Utz, erklang ein mächtiger Choral. Gemeinsam gaben die Posaunenchöre Frankenberg, Neustadt am Kulm und Wirbenz-Kemnath-Immenreuth dem Gedenkgottesdienst einen würdigen Rahmen. Am Flügel begleitete Walter Thurn das Zeremoniell.
In seinen Willkommensworten zum Reformationstag sah Pfarrer Dr. André Fischer den Gottesdienst als eine Unterbrechung des Alltags mit Ausrichtung auf Gott. Zum gleichzeitigen regen Treiben in der Netzaberg-Siedlung merkte er nur an: "Draußen tobt Halloween, und wir hier dürfen Gottesdienst feiern." Auch beim Thesenanschlag Martin Luthers am 31. Oktober 1517 sah er einen Anstoß zur Unterbrechung und räumte ein: "Doch was dann kam, hat eine Revolution ausgelöst." Sein Dank galt allen, die im Vorfeld des Gottesdienstes viel zu organisieren hatten.
Mit einem "Welcome to this chapel tonight" erinnerte Teixeira an Luther und freute sich über die binationale "gemeinsame Feier im Sinne Christi". Nicht nur beim Lied "Eine feste Burg ist unser Gott" leuchteten zu beiden Seiten des Altars im steten Wechsel die Texte in deutscher und englischer Sprache auf. Auch das Vorbereitungsgebet trug Utz auf Deutsch und Englisch vor. Die Epistel las Vikarin Katrin Spies, das Evangelium ein Angehöriger der US-Gemeinde. In seiner Predigt griff Pfarrer Micha Börschmann den Römerbrief des Apostels Paulus auf, in dem dieser über die Rechtfertigung allein aus Glauben schreibt: "Alle haben gesündigt und den Glanz verloren, den Gott ihnen zugedacht hatte." Er spann den Gedanken vom Glanz und Leuchten in den Augen weiter und erzählte von Tim, der als Allerdickster und Tollpatschiger in der Klasse stets gehänselt wurde. Der Junge wünschte sich, nicht länger Tim zu sein, sondern ein anderer. Dieser Wunsch sei in Erfüllung gegangen, als er mit seinem Vater, beide unter anderen Namen, auf der Walz große und kleine Abenteuer erlebte und Tim später in der Schule mitlachen konnte und die Kinder ihm zuhörten. Börschmann resümierte, dass Tim die Landstreicherzeit als Geschenk genommen hat, sich nach der Rückkehr wohler in seiner Haut fühlte und erkannte: "Du bist recht, so wie du bist."
In den Alltag übertragen, betonte Börschmann, dass wir mit kleinen und großen Fehlern nicht so seien, wie wir sein sollten, und sagte: "Manchmal spüren wir das ganz deutlich. Dann sind wir glanzlos." Am schlimmsten sei es aber wohl, wenn wir so abgestumpft sind, dass wir dies nicht einmal mehr merken, uns und unsere Meinung ganz toll finden und andere Menschen in die Pfanne hauen - wie den kleinen Tim - und diese sich dann von uns abwenden. "Und wir halten das für eine großartige Leistung, viel Feind - viel Ehr", gab der Pfarrer den Gläubigen zum Nachdenken mit auf den Weg."
















 
 
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